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Leben im Kalifat

Birgit Svensson, Kirkuk3. Februar 2015

Die Terrormiliz IS festigt ihren Staat, führt den Sozialismus im Wohnungsmarkt ein, verbietet Alkohol, Zigaretten und Dosennahrung. Im Sammeltaxi von Erbil nach Kirkuk erzählen Flüchtlinge ihre Geschichte.

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Eine Straße in Mossul (Foto: picture-alliance/dpa)
Dieses Foto vom November 2014 zeigt eine Straße im Zentrum von Mossul. Im Hintergrund sind die schwarzen Fahrzeuge des IS zu sehen.Bild: picture-alliance/dpa

Das ganze Ausmaß der Tragödie des Irak lässt sich erahnen, wenn man im Sammeltaxi von Erbil nach Kirkuk fährt und von den Erlebnissen der Mitfahrer erfährt. Im Taxi sitzen: Der massige Marwan, der vorne neben dem Fahrer Platz genommen hat und dafür 5000 irakische Dinar (4,50 Euro) mehr bezahlt als die Mitfahrer hinten. Der nervöse Youssef, dessen Blick ständig von der Windschutzscheibe zu den Seitenfenstern wandert. Der alte Ahmed, der zu dösen scheint, aber hell wach wird, wenn sein kleiner Enkelsohn von seinen Knien zu rutschen droht.

Knapp 80 Kilometer trennen die Metropole Erbil im autonomen Irak-Kurdistan von der Ölstadt Kirkuk, die bis zum Einmarsch der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Juni letzten Jahres von Bagdad verwaltet wurde. Trotz der Blitzinvasion der Mördertruppe, der große Teile Nordiraks zum Opfer fielen, wird Kirkuk von kurdischen Peschmerga-Truppen gesichert. Denn sie waren schneller in der Stadt als die islamistischen Gotteskrieger.

Ein Peschmerga posiert vor der Skyline von Kirkuk (Foto: DW/H. Mewis)
Die Peschmerga verteidigen Kirkuk gegen den ISBild: DW/H. Mewis

Zunächst breite Zustimmung für IS

Marwan kann nicht mehr. Bis jetzt harrte er in Mossul aus, blieb in seinem Haus und in seiner Stadt, auch als die "finsteren Kerle" des IS immer mehr wurden und anfingen, die Stadt zu beherrschen. "Anfangs haben wir noch geglaubt, dass die wieder abhauen, nachdem sie die Regierenden abgesetzt und in die Flucht getrieben haben", erzählt er. Diejenigen, die dann die Verwaltung übernahmen, waren bekannt in der Stadt. Es waren Leute, die schon zu Saddams Zeiten in den Ämtern saßen. Deshalb habe es auch keinen größeren Widerstand gegeben.

Marwan selbst konnte seinen angestammten Platz in der Stadtverwaltung wieder erlangen. "Alles wie früher, dachten wir." Wo das Geld für die Löhne herkam, wusste er nicht. Hauptsache, es wurde pünktlich bezahlt. Das war man von den neuen Herren nach dem Sturz Saddams nicht gewohnt. Die nicht enden wollenden Streitigkeiten zwischen den politischen Fraktionen in Stadt- und Provinzrat und der Kampf mit der Zentralregierung in Bagdad lähmte die Entwicklung Mossuls. Korruption und Vetternwirtschaft taten ein Übriges. "Die Menschen waren es leid", erklärt Marwan die eingangs breite Zustimmung der Stadtbewohner für Daesh, wie der IS auf Arabisch heißt. Mit zwei Millionen Einwohnern ist Mossul die drittgrößte Stadt Iraks und die erste Stadt, die vom IS überrollt wurde. Danach folgten Tikrit und kleinere Städte in den Provinzen Salaheddin und Dijala und fast die ganze Provinz Anbar.

IS verbietet Dosennahrung

Mehr als acht Millionen Menschen sollen inzwischen unter der Terrorherrschaft des "Islamischen Staates" im Irak und in Syrien leben. Flächenmäßig betrachtet kontrolliert Daesh ein Territorium von Westirak bis nach Ostsyrien, vergleichbar mit Großbritannien, auch wenn Städte wie Kobane oder die Berge von Sinjar mittlerweile zurückerobert werden konnten. Doch das sind minimale Niederlagen, wenn man die knapp 230.000 Quadratkilometer bedenkt, die das ausgerufene Kalifat umfasst. Wer nicht geflohen ist, den hat sich der IS untertan gemacht.

Marwan war bis jetzt einer dieser Untertanen. Keine Musik außer islamischen Gesängen, kein Alkohol und vor allem: Geschlechtertrennung - auch in Form von Verschleierung aller Mädchen und Frauen. Selbst für Marwan, einem streng gläubigen sunnitischen Araber, ist das zuviel, obwohl gerade er die besten Chancen hätte, dort klar zu kommen. Der IS ist sunnitisch geprägt und verfolgt eine rigide Auslegung der sunnitischen Rechtslehre. "Aber das ist doch kein Leben mehr", begründet der 46-jährige Iraker seine Flucht aus Mossul. Jetzt sei sogar der Verkauf von Dosennahrung verboten worden. Dies sei gegen die Scharia, würde als Begründung gegeben. Die Ladenbesitzer hätten deshalb ihre Dosen mit Bohnen, Linsen, Obst und Frühstücksfleisch aus den Regalen genommen.

Christen wurden als erste vertrieben

Auch Youssef war in Mossul. Zwei Tage lang. Er schlich um das Haus, das er einmal bewohnt hat und versuchte Dokumente und Papiere zu holen, um sich bei den Behörden als einer von über zwei Millionen Binnenflüchtlingen ausweisen zu können. "Doch dort wohnt jetzt Daesh", hat er von den Nachbarn erfahren. Unverrichteter Dinge fuhr er wieder ab. Die Christen waren die ersten, die aus Mossul vertrieben wurden, als die islamistischen Gotteskrieger kamen. Sie nahmen ihnen alles: Immobilien, Häuser, Schmuck, auch die Frauen. Christinnen wurden verschleppt und vergewaltigt. Mit Megafonen wurden sie aufgefordert, zum Islam zu konvertieren, die Christensteuer, die im Koran Dschizya genannt wird, zu zahlen oder zu gehen. Die meisten gingen.

Youssef sagt, es gäbe keine Christen mehr in Mossul. "Nachdem die Christen weg waren, haben sie die Jesiden angeschleppt", hat der 52-jährige Chaldäer erfahren. Er gehört der größten christlichen Gruppierung an, die der Irak in seiner ethnischen und religiösen Vielfalt aufweist. Allerdings hat deren Zahl sich seit dem Einmarsch der Briten und Amerikaner im Jahre 2003 und dem damit aufkommenden Terror halbiert. "Die Jesiden werden so wie wir als Ungläubige angesehen und gelten denen als Freiwild." Youssef hat gehört, dass die Frauen zwangsverheiratet und wie Sklavinnen behandelt werden. Wie die Barbaren fielen die IS-Kämpfer über sie her. Kürzlich sind mehr als 200 Jesiden aus Mossul freigelassen worden. Auf der Straße zwischen Erbil und Kirkuk wurden sie ausgesetzt. Es waren Alte und Kranke, die man wohl loswerden wollte.

"IS führt den Sozialismus ein"

Im Westen wird der "Islamische Staat" vor allem als brutale Terrormiliz wahrgenommen. Tatsächlich ist er weit mehr als das, und wahrscheinlich deshalb kein kurzlebiges Phänomen. Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile 100.000 Kämpfer dem IS angehören. Jetzt mischt sich auch Ahmed in die Diskussion ein. Ihm hätten sie das Haus genommen, berichtet der Turkmene. Seine Heimat ist Tilkef, die nördlichste vom IS eingenommene Stadt, etwa 30 Kilometer von Dohuk entfernt. Als Daesh kam, war er nicht zuhause. Die hätten dann alle Häuser beschlagnahmt, die unbewohnt waren. Jetzt würden sie Miete kassieren, obwohl es sein Haus sei. Der Immobilienmarkt im Kalifat ist inzwischen einheitlich geregelt: 83 Dollar zahlen Mieter für eine Wohnung pro Woche, 125 Dollar für ein Haus. Die Mieten werden nicht an die ursprünglichen Eigentümer abgeführt, sondern an die Daesh-Verwaltung. Das gelte für Tilkef, Mossul und auch für die Provinz Anbar, haben die drei Männer im Sammeltaxi erfahren. "Daesh führt den Sozialismus ein", witzelt Marwan.

Kinder in Kirkuk schauen neugierig in die Kamera (Foto: DW/B. Svensson)
In Kirkuk endet die Fahrt mit dem Sammeltaxi.Bild: DW/B. Svensson

Am Kontrollpunkt vor den Toren Kirkuks ist die Fahrt vorbei. Neu ankommende Flüchtlinge werden zunächst registriert und vom kurdischen Geheimdienst vernommen. Jetzt müssen Marwan, Youssef und Ahmed noch einmal ihre Geschichte erzählen.