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Löfflers Lektüren

19. Februar 2010

Der südafrikanische Autor J.M. Coetzee liebt das Versteckspiel um seine Person. Im dritten und letzten Teil seiner Autobiografie verwischt der Literaturnobelpreisträger geschickt die Grenzen von Fiktion und Realität.

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Buchcover J.M. Coetzee: Sommer des Lebens (S. Fischer)

In den letzten zehn, zwölf Jahren bestand das subversive literarische Projekt des südafrikanischen Autors, Literaturprofessors und Nobelpreisträgers J. M. Coetzee, Jahrgang 1940, vor allem darin, die konventionellen Gattungsformen des Romans und der Biografie zu untergraben und deren Fragwürdigkeiten als Fiktionen hervorzukehren. Seine Romane von Schande (1999) bis Tagebuch eines schlimmen Jahres (2008) legen eine autobiografische Lesart nahe und widerrufen sie zugleich. Und das gilt erst recht für Coetzees nun abgeschlossene semi-autobiografische Trilogie, die das Genre Autobiografie bewusst unterminieren und den beliebten Kurzschluss vom Werk eines Autors auf sein Leben infrage stellen will: Sie begann mit Der Junge (1997) und Die jungen Jahre (2002) und wird nun mit Sommer des Lebens abgeschlossen.

Autobiografische Fiktionen

Die drei Bände sind darauf angelegt, den Leser zu verunsichern und seine Leichtgläubigkeit an die Zuverlässigkeit von Autobiografien immer mehr zu verwirren. Die ersten beiden Bände schilderten Kindheit und Schulzeit des jungen John in Südafrika und seine Londoner Studienjahre – in der distanzierenden dritten Person. Beim nun erschienenen dritten Band Sommer des Lebens treibt Coetzee sein Rätsel- und Verwirrspiel ins Extrem: Es gibt keine biografische Wahrheit. Auch die Autobiografie ist ein literarisches Konstrukt, eine Fiktion. Wenn Coetzee von sich selbst spricht, dann nur verborgen hinter Schleiern von Fiktionen.

Sein Romanheld heißt "John Coetzee", ist ein weltberühmter Autor und vor kurzem in Australien gestorben. Ein junger Biograf, so die Fiktion, sammelt Material, um Coetzees Leben zu beschreiben. Ihn interessieren besonders die 1970er Jahre, in denen dieser Coetzee unter zweifelhaften Umständen arbeitslos aus den USA nach Kapstadt zurückkehrte, als Lehrer Fuß zu fassen suchte, sich zum Schriftsteller entwickelte und sein erstes Buch veröffentlichte. Der Biograf führt Interviews mit fünf Personen, die Coetzee damals nahestanden, die meisten davon Frauen – zwei Ex-Geliebte, seine Lieblings-Cousine, die Mutter einer seiner Schülerinnen.

Coetzees gnadenlose Kritik an "Coetzee"

Porträt John M. Coetzee
John M. CoetzeeBild: AP

Das Bild, das Coetzee vom fiktiven Coetzee entwirft, ist unbarmherzig. Die Interview-Partner beschreiben ihn als kalt, unmännlich, geschlechtslos, hölzern, kontaktscheu, autistisch – ein düsterer, misstrauischer Einzelgänger und schlechter Liebhaber. Verglichen mit den temperamentvollen Interview-Partnerinnen – lebenskluge, kritische, selbstbewusste Frauen – verblasst der Protagonist beinahe zum Gespenst.

Diese Selbstinszenierung ist extrem narzisstisch: Schließlich hat der Autor immer das letzte Wort. So abfällig die Frauen über Coetzee als Liebhaber und als Künstler auch urteilen – der Autor selbst ist es, der ihnen die Verdammungsurteile in den Mund legt. Der paradoxe Effekt beim Lesen dieser radikalen Selbst-Abkanzelung: Je mehr der Autor die autobiografische Realität infrage stellt, desto schneidender tritt die Wahrheit zutage. J. M. Coetzee schneidet sich in Gestalt seines Roman-Helden immer ins eigene Fleisch.

Autorin: Sigrid Löffler

Redaktion: Gabriela Schaaf

J. M. Coetzee: Sommer des Lebens. Roman

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

S. Fischer Verlag 2010. 297 S. 19,95 €