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Können Flüchtlinge die Wirtschaft ankurbeln?

Klaus Ulrich12. November 2015

Durch den Zustrom von Flüchtlingen entstehen hohe Mehrausgaben für den Staat. Viele Ökonomen sind der Meinung, dass das Land aber langfristig davon profitieren wird. Doch es gibt auch Widerspruch.

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Bild: picture-alliance/dpa/F. Kästle

Die Kosten für die Bewältigung der Flüchtlingskrise steigen und steigen: Für Unterbringung, Ernährung, Kindertagesstätten, Schulen, Deutschkurse und Verwaltung rechnen Experten mit 15 bis 20 Milliarden Euro Mehrausgaben pro Jahr. Wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin schreibt, gilt als Faustregel: Ein einziger Flüchtling kostet den Staat jährlich etwa 12.000 Euro.

Dabei müsse aber unterschieden werden zwischen der kurzfristigen Betrachtung und einer langfristigen Perspektive, meint DIW-Chef Marcel Fratzscher. Er versucht, den Kostenfaktor angemessen zu interpretieren. "Ich stoße mich daran, wenn man die Ausgaben für Flüchtlinge nur als Kosten sieht", so Fratzscher gegenüber der DW.

Denn wenn wir heute in die Kindertagesstätten und in die Schulen unserer Kinder investierten, sagten wir ja auch nicht, dass das Kosten seien. "Diese Investitionen werden sich ja auch erst in 20 oder 30 Jahren wirtschaftlich für Deutschland auswirken. Das Gleiche gilt für Flüchtlinge. Wir sollten das als Investition verstehen."

Flüchtlingshilfe als Konjunkturprogramm

Es dürfe auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Ausgaben für Flüchtlinge ja auch teilweise in die deutsche Wirtschaft fließen. Von den Aufwendungen für Lebensmittel sowie andere Güter und Dienstleistungen profitierten in erster Linie deutsche Unternehmen und Arbeitnehmer. Die finanzielle Flüchtlingshilfe sei also auch ein kleines Konjunkturprogramm.

Alle Experten sind sich einig: Entscheidend wird sein, wie schnell es gelingt, die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das DIW hat aufgrund historischer Erfahrungen unterschiedliche Szenarien dazu berechnet. Dabei wurden neben einem Basisszenario ein optimistisches und ein pessimistisches Modell unter die Lupe genommen.

Langfristige Perspektive

Um das Ergebnis der Simulationsrechnungen vorweg zu nehmen: Die zentrale Frage ist laut Fratzscher nicht, ob die Flüchtlinge langfristig einen wirtschaftlichen Nutzen in Deutschland bedeuten, sondern lediglich, wie schnell die Leistungen der Flüchtlinge die zusätzlichen Ausgaben übertreffen.

"Die meisten Flüchtlinge sind sehr jung, werden also noch 40 oder 50 Jahre im Beschäftigungsleben sein", betont der DIW-Chef in diesem Zusammenhang. "Nach unseren Berechnungen könnte es sehr gut sein, dass bereits nach fünf oder sechs Jahren der wirtschaftliche Nutzen der Flüchtlinge die Kosten übertrifft."

Infografik Differenz aus positiven und negativen Effekten der Flüchtlingsmigration

Auch David Folkerts-Landau sieht in der massiven Zuwanderung eine Chance für das alternde Deutschland. Der Chef der Denkfabrik Deutsche Bank Research glaubt, ohne Migranten würde das Wirtschaftswachstum in den nächsten zehn Jahren von derzeit im Schnitt etwa 1,5 Prozent auf nur noch 0,5 Prozent pro Jahr fallen. "Ein Gelingen der Integration bietet in einem Win-Win-Szenario Deutschland die Chance, seine Position als wirtschaftliches Powerhouse Europas zu festigen", beschreibt Folkerts-Landau seine Position.

Kritik: Mehr Kosten als Nutzen?

Clemens Fuest, ebenfalls renommierter Ökonom und Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), teilt diesen Optimismus nicht. Er glaubt, dass es schwierig wird, Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft zu integrieren. "Positiv sind die Wirkungen auf unsere Altersstruktur - es gibt mehr junge Leute, es kommen neue Ideen mit den Flüchtlingen. Negativ ist, dass wir einen ausgebauten Sozialstaat haben und die Flüchtlinge viele Jahre nichts oder wenig verdienen werden und den Staat deutlich mehr kosten werden, als sie an Steuern und Abgaben beitragen", sagt Fuest im Gespräch mit der DW.

Der ZEW-Chef betont dabei, wie wichtig es sei, die Menschen aufzunehmen. Die kämen zu uns, weil sie in Not sind - und schließlich handele es sich ja nicht um ein Geschäft. "Das Ganze ist keine Geschichte, bei der wir reicher werden als vorher - jedenfalls nicht im materiellen Sinne."

Flexibilität gefragt

Womit wir beim Stichwort "Flexibilität" wären. Die könnte ja durch die Flüchtlingskrise und den damit verbundenen Handlungsdruck einen ganz neuen Schub in diesem Land kriegen, das viele oft als sehr erstarrt und verkrustet beschreiben.

Für Fuest wäre es eine positive Wirkung, wenn in Deutschland Staat und Gesellschaft beginnen würden, noch einmal neu darüber nachzudenken, wie die Sozialsysteme aufgestellt sind, wie der Arbeitsmarkt funktioniert, ob da eine stärkere Flexibilität gefragt sei.

"Ich fürchte allerdings, dass wir uns eben nicht ändern und keine großen Reformen in diesem Land stattfinden", so Fuest, "und dann in der Folge, dass die Flüchtlinge lange Zeit arbeitslos bleiben werden und quasi nur in den deutschen Sozialstaat einwandern."

Proaktive Politik erforderlich

Insgesamt wünscht sich der Ökonom, dass die Politik in Deutschland etwas vorausschauender, proaktiver auf die Krise reagierte. Das sei bislang aber nicht sichtbar.

Wie beispielsweise auch die fünf Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten appelliert der Ökonom an die Politik, die Regulierung am Arbeitsmarkt wie den Mindestlohn wieder zu lockern.