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Gespräche mit den Toten

Marie Todeskino26. Oktober 2013

In ihren Romanen lotet die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff die Grenzen zum Jenseits neu aus. Nun wurde ihr der wichtigste deutsche Literaturpreis verliehen, der Büchner-Preis.

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Sibylle Lewitscharoff, Schriftstellerin am 12.10.2011 Frankfurter Buchmesse 2011 in Frankfurt am Main / Deutschland Bild: picture alliance / Sven Simon
Sibylle LewitscharoffBild: picture alliance/Sven Simon

Umnebelt vom Alkohol und von seinen Erinnerungen, berichtet ein Gymnasiallehrer aus Stuttgart von seinem Leben und einer Jenseitserfahrung. Ralph Zimmermann, so heißt der Mittfünfziger, stieg ins Reich der Toten hinab und wieder hinauf - seither wird auch sein reales Leben von Untoten umweht. Sie schalten sich in die Gegenwart ein und wollen Zimmermann einfach nicht in Ruhe lassen.

"Consummatus" heißt dieser Roman von Sibylle Lewitscharoff, der 2006 erschien. Das Buch setzt sich mit der Frage auseinander, was uns die Toten heute eigentlich noch bedeuten.

Das "Gespräch mit den Toten" sei das Ziel ihrer Literatur, hat Sibylle Lewitscharoff einmal gesagt. Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Vedder von der Berliner Humboldt-Universität nennt dieses wichtige Thema bei Lewitscharoff "Mitleben mit den Toten". Abseits von Esoterik oder Erinnerungsliteratur beschäftige sich die Autorin mit der Rolle der Toten und der Vergangenheit. "Das berührt auch immer die Frage des Religiösen, ohne dass es religiöse Texte wären", sagt Vedder.

Sibylle Lewitscharoff signiert ein Buch (Foto: picture alliance/Robert P. Fishman)
Sibylle Lewitscharoff erhält den renommierten Georg-Büchner-Preis 2013Bild: picture-alliance/Robert B. Fishman

"Erfrischend unfeierlicher Spielwitz"

Mit dem Tod hat Sibylle Lewitscharoff schon früh Erfahrungen gemacht. Sie wuchs als Tochter des Arztes Kristo Lewitscharoff, eines Exil-Bulgaren, und seiner Frau Marianne, einer Deutschen, in Stuttgart auf. Ihr Vater litt an Depressionen. Als sie neun Jahre alt war, nahm er sich das Leben. Diese traumatische Erfahrung hat die heute 59-Jährige später in ihrem Roman "Apostoloff" (2009) noch einmal aufgegriffen.

Nach dem Abitur studierte Sibylle Lewitscharoff Religionswissenschaften und Soziologie in Berlin. Das Besondere an ihrem literarischen Werk liegt auch in der fundierten Gelehrsamkeit der Autorin. "Es ist die Konstellation aus profundem Wissen und einer Schreibweise, die Witz hat, sehr eigensinnig ist und die mit der Sprache nicht nur spielt, sondern die ihrerseits die Sprache wieder bereichert", sagt Ulrike Vedder.

Im Zwing-Ei

Sibylle Lewitscharoff ist eine Intellektuelle, ihre Bücher sind dennoch für jeden lesbar. Die Jury des Georg-Büchner-Preises, der ihr am 26. Oktober 2013 verliehen wird, lobt in ihrer Begründung: "Philosophische und religiöse Grundfragen der Existenz entfaltet die Schriftstellerin in einer subtilen Auseinandersetzung mit großen literarischen Traditionen und mit erfrischend unfeierlichem Spielwitz." Zu Büchner selbst fühlt sich Sibylle Lewitscharoff nicht so sehr hingezogen: "Ich habe keinen wirklich habhaften Bezug zu ihm. Es gibt andere Schriftsteller, die mir wirklich ans Herz gewachsen sind und zu denen ich eine starke Verbindung fühle. Jean Paul zum Beispiel. Aber der heißeste Kandidat für meine ganz große Liebe ist immer Franz Kafka. Zu Büchner muss ich die Verbindung erst ein bisschen aufbauen."

Buchcover "Pong" (Foto: Berlin Verlag)
Der Roman "Pong" ist aus der Sicht eines Verrückten geschriebenBild: Berlin Verlag

Ihren literarischen Durchbruch schaffte Sibylle Lewitscharoff mit "Pong". Für den Roman, der aus der Sicht eines Verrückten geschrieben ist, erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt, einen der renommiertesten Literaturpreise für Nachwuchsschriftsteller. Literaturkritiker feierten Lewitscharoff für ihren fantasievollen Stil. Viele zitierten in ihren Rezensionen die ersten Sätze von "Pong": "Einem Verrückten gefällt die Welt, wie sie ist, weil er in ihrer Mitte wohnt. Nicht irgendwo in irgendeiner Mitte, sondern in der unschlüssigen Mittemitte, im Zwing-Ei."

Nachdem er sich vor 15 Jahren "dem Mond in die Arme geworfen" hatte, ist "Pong" nun zurückgekehrt: Als Hauptfigur in Lewitscharoffs neuestem Buch "Pong redivivus" (2013), liebevoll gestaltet mit Illustrationen ihres Lebensgefährten, des Künstlers Friedrich Meckseper. Auch Lewitscharoff selbst ist neben ihrem literarischen Schaffen künstlerisch tätig. Die Illustrationen zu ihrem Kinderbuch "Der höfliche Harald" aus dem Jahr 1999 zeichnete sie selbst. Ihre künstlerischen Arbeiten waren in verschiedenen Ausstellungen zu sehen.

Philosoph und Löwe

In ihrem Werk erfindet sich Sibylle Lewitscharoff immer wieder neu. Sowohl in ihrem Stil als auch thematisch habe die Autorin eine große Spannbreite, sagt Ulrike Vedder. Ihre Bücher machen in den Feuilletons regelmäßig Furore, zuletzt "Blumenberg" (2011). Der Roman erzählt von dem Philosophen Hans Blumenberg, doch von einer trockenen Abhandlung ist er weit entfernt: Plötzlich taucht ein Löwe auf, der Blumenberg von nun an begleitet - eine absurde und märchenhafte Situation, die allerdings wie ein realistischer Roman ausbuchstabiert wird. "Diese Kollision aus Unvereinbarem, das eröffnet immer neue Perspektiven", sagt Vedder.

Buchcover "Blumenberg"
Löwe begleitet Philosophen: Cover des Buches "Blumenberg" (2011)

Lewitscharoff steht dabei in der Tradition des "magischen Realismus" im Stile des Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez. In ihrem neuen Roman soll es um den italienischen Dichter Dante gehen: "Ich habe eine intensive Beschäftigung mit Dante vor. Das ist nun wirklich ein ganz großer Dichter, das ist ein Jahrtausenddichter. Man lernt aus diesem Werk nicht nur die italienische Sprache. Es ist überhaupt das größte Werk, das das Christentum geschaffen hat", sagt sie.

Sibylle Lewitscharoff ist auch Theaterautorin. Das Bewusstsein für Parallelwelten spiegelt sich in ihrem ersten Stück: 2012 wurde "Vor dem Gericht" uraufgeführt. Es beschäftigt sich wieder mit dem Übergang in eine andere Welt. Menschen sitzen in einem Wartesaal zum Jenseits und warten, dass ihre Nummer aufgerufen wird. Das "Gespräch mit den Toten", es ist noch lange nicht zu Ende.