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Kunst als Demonstration

Senada Sokollu20. September 2013

Die Biennale Istanbul gestaltet öffentliche Räume zu politischen Foren. Das ist kein Zufall. Die internationalen Künstler nehmen bewusst auf die Massenproteste gegen die türkische Regierung Bezug.

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Demonstranten protestieren gegen die türkische Regierung. (Foto: GURCAN OZTURK/AFP/Getty Images)
Bild: Gurcan Ozturk/AFP/Getty Images

Ein grüner Ball donnert gegen die Betonwand - immer und immer wieder. Diese Kunstinstallation in Form einer gigantischen Abrissbirne begrüßt die Besucher am Haupteingang der diesjährigen Biennale in Istanbul. Die türkische Künstlerin Ayse Erkmen verweist damit auf die städtische Transformation der Stadt. Das liegt ganz im Sinne von Fulya Erdemci, der Kuratorin der Biennale. Unter dem Motto "Mutter, bin ich ein Barbar?" sollen vor allem die "Unterdrückten und Ausgeschlossenen der Gesellschaft" durch die Kunst aufgefangen werden, sagt Erdemci. Der öffentliche Raum als politisches Forum steht damit im Fokus des diesjährigen Ausstellungskonzepts. Ein Thema, das aktueller nicht sein könnte.

Massenproteste neu entflammt

Als die ersten Biennale-Touristen am 14. September 2013 durch die Istanbuler Innenstadt schlenderten, wurden sie von der neu entflammten Protestwelle überrascht. Auch Tränengas und Wasserwerfer kamen gegen die Demonstranten zum Einsatz. Grund für den Volkszorn war der Tod des 22-jährigen Ahmet Atakan. Er kam bei einer Demonstration in der türkischen Stadt Antakya ums Leben. Augenzeugen und Verwandte des Toten geben der Polizei die Schuld und vermuten eine Tränengas-Kartusche, die ihn am Kopf getroffen haben soll. Atakans Tod löste in vielen Städten der Türkei neue Proteste aus. Alleine in Istanbul seien laut Medienberichten 40 Menschen festgenommen worden. Eine weitere Protestwelle nach den Massendemonstrationen im Istanbuler Gezi-Park.

Die Proteste waren der Grund, warum Fulya Erdemci ihre ersten Pläne für die Ausstellung über den Haufen warf. Seit fast zwei Jahren waren die öffentlichen Plätze Istanbuls für die Kunst der insgesamt 88 internationalen Künstler vorgesehen: der Gezi-Park, der Taksim-Platz, vom Abriss bedrohte Stadtviertel, bedrohte Natur, all die Orte, über die plötzlich das ganze Land diskutierte. Für insgesamt 14 Projekte hatte sich Erdemci bei der Istanbuler Stadtgemeinde und beim Kultusministerium beworben, doch nie eine Antwort bekommen. Die Istanbuler Stadtgemeinde unterstützte das harte Durchgreifen der Polizei gegen die Demonstranten, daher geriet sie während der Proteste vermehrt in Kritik. Kuratorin Fulya Erdemci zog sich daher spontan von den öffentlichen Plätzen in insgesamt fünf Ausstellungsräume in der Istanbuler Innenstadt zurück. "Wir wollten nicht mit den gleichen Behörden zusammenarbeiten, die diese friedliche Bewegung, die Stimme des Volkes unterdrückt", zeigt sich Fulya Erdemci solidarisch. Durch den Rückzug aus den öffentlichen Plätzen habe man eine starke künstlerische und politische Botschaft entsenden wollen, fügt Erdemci hinzu.

Abrissbirnen-Installation auf der Kunstbiennale in Istanbul (Foto: DW/S. Sokollu/V. Uygunoglu)
Abrissbirnen-Installation auf der Kunstbiennale in IstanbulBild: DW/S. Sokollu/V. Uygunoglu

Parks als politische Foren

Über die Biennale können internationale Künstler bei den Gezi-Park-Protesten mitmischen. Darunter auch der deutsche Künstler Christoph Schäfer. In seinen Zeichnungen geht es vor allem um die Bedeutung von Parks als politische Foren. Vor allem der Istanbuler Gezi-Park ist für ihn ein gutes Vorbild für solch ein politisches Forum im öffentlichen Raum. Stundenlang saßen Studenten, Künstler, Professoren und Ärzte gemeinsam im Gezi-Park und diskutierten über Politik oder machten Musik. "Dadurch erhalten das öffentliche Gespräch und das Politische eine ganz andere Qualität", so Schäfer.

Der deutsche Künstler Christoph Schäfer vor seinen Zeichnungen über den Gezi-Park. (Foto: DW/S. Sokollu)
Der deutsche Künstler Christoph SchäferBild: DW/S. Sokollu

Eine Zeichnung Schäfers zeigt einen Park in Hamburg. Vor rund 15 Jahren hat sich Schäfer selbst für den sogenannten "Park Fiction" eingesetzt. Die Grünanlage ist ein künstlerisches und gesellschaftspolitisches Projekt an dem Schäfer als Künstler mitwirkte. Das Projekt ist ein Paradebeispiel für Kunst im öffentlichen Raum. Anwohner des Parks konnten mit Ideen und Zeichnungen über die Gestaltung mitbestimmen. Aus Solidarität änderte sich über Nacht sein Name in "Gezi Park Fiction". "Politische Bewegungen aus anderen Ländern können ohnehin viel von der Bewegung in Istanbul lernen, weil die Protestaktionen geschickt und klug vermittelt waren", so der Künstler.

Die Biennale probe nicht den "zivilen Ungehorsam", wie es in vielen Medien dargestellt werde, sondern ist lediglich eine Reflexion der Ereignisse in Istanbul, sagt Schäfer. "In der Ausstellung werden alle wunden Punkte benannt. Aber da sich die Menschen ihre politischen Plattformen heutzutage selbst schaffen, ist die Biennale nicht mehr das eine Leuchtende", so Schäfer. Für den Künstler wurde der Biennale die Wichtigkeit genommen, da sich der Volkszorn ohnehin bereits auf der Straße entlud.

Die Kunst des stillen Stehprotests

Der Künstler Erdem Gündüz beim stummen Protest (Foto: REUTERS/Marko Djurica)
Der Künstler Erdem Gündüz beim stummen ProtestBild: Reuters

Auch Erdem Gündüz ist auf der Biennale. Während des Protestsommers schuf der türkische Künstler und Choreograf dem türkischen Wutbürger eine politische Plattform: Er initiierte einen stillen Stehprotest auf dem Taksim-Platz. Die Aktion nannte er "Stehender Mann". Tausende machten es ihm nach und standen stundenlang auf öffentlichen Plätzen - eine kreative Alternative zu den lautstarken Massendemonstrationen. Auf der Biennale hält er Lesungen, unter anderem über die Menschen im Gezi-Park. "Die Kunst ist nicht weit entfernt vom realen Leben. So wie der stehende Mann. Später haben die Menschen verstanden, dass die Kunst wichtig ist, weil ein Mann so etwas tut und er ein Künstler ist", so Gündüz.

Künstlerischer Protest gegen die Baupläne der Regierung

Für Andrea Phillips, die Co-Kuratorin der Biennale, ist neben dem Gezi-Park auch die Finanzkrise ein wichtiges Thema der Ausstellung. Es sei gerade in Istanbul so interessant, weil die Stadt eine wachsende Wirtschaft vorweise. Doch in Istanbul gäbe es trotzdem ein Problem mit dem Kapitalismus. "Da muss man sich nur das Wohnproblem in der Türkei ansehen. Dieses Problem löste auch die Proteste aus. Viele Gebäude in der Innenstadt, auch unweit von der Biennale entfernt, werden abgerissen und ersetzt durch neue luxuriöse Wohnräume oder Einkaufszentren", so Phillips.

Fotostrecke des Künstlers Serkan Taycan (Foto: DW/S. Sokollu/V. Uygunoglu)
Fotostrecke des Künstlers Serkan TaycanBild: DW/S. Sokollu/V. Uygunoglu

Serkan Taycan ist einer der Künstler, der sich mit dem umstrittenen Bauboom in Istanbul beschäftigt. Der Fotograf hat einen 60 km langen Pfad herausgesucht, der entlang der Nord-Süd-Achse vom Schwarzen Meer bis zur Innenstadt am Marmarameer verläuft. Der Weg führt entlang der großen Baupläne Istanbuls: dem Istanbul-Kanal als zweiter Bosporus, der dritten Brücke über den Bosporus sowie den dritten Flughafen. "Das betrifft uns Bewohner in Istanbul beträchtlich. Durch diesen Pfad möchte ich den Menschen die Möglichkeit geben, diese Transformation zu erleben", so Taycan. Dieser Pfad würde schließlich in fünf Jahren nicht mehr in der Form zu begehen sein, betont der Künstler. Damit trifft Taycan den Nerv des türkischen Volks. Die Demonstranten im Gezi-Park haben die Baupläne der türkischen Regierung des Öfteren als "größenwahnsinnig" und "unnötig" beschrieben. Auch Wirtschaftsexperten wünschen sich stattdessen Investitionen im Bildungs- und Gesundheitssektor.

Kunst für das Volk

Durch Projekte wie das von Serkan Taycan oder die Abrissbirnen-Installation von Ayse Erkmen scheinen sich die Menschen in der Türkei verstanden zu fühlen. "Die Leute, die in der Türkei leben, haben momentan eine schwere Zeit. Wir sind froh, dass sich Künstler den aktuellen Problemen im menschenrechtlichen aber auch im wirtschaftlichen Sinne widmen", sagt eine junge türkische Biennale-Besucherin. Die Biennale endet erst am 20. Oktober 2013, doch die Resonanz der Besucher macht sich jetzt schon bemerkbar. "Die Ausstellungen werden mit einer Genauigkeit angesehen, die nicht bei jeder Ausstellung zu bemerken ist", so der deutsche Künstler Christoph Schäfer. Ein schwedischer Besucher ist extra für die Biennale nach Istanbul gereist und zieht den Vergleich: "Ich interessiere mich eigentlich nicht für politische Kunst, aber ich war schon auf vielen Biennalen, auch auf der in Venedig. Ich bin überrascht, wie interessant diese hier ist, zumal die politischen Ereignisse die Planung spontan umgeworfen haben", so der Besucher.