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Glaube

Kulturvergessen oder: Wer ist der Mann am Kreuz?

15. Mai 2020

Vor 25 Jahren sprach das Bundesverfassungsgericht das „Kruzifix-Urteil“. Der öffentliche Aufschrei gegen das Urteil ist heute für viele nicht mehr nachvollziehbar. Ist der Mann am Kreuz in Vergessenheit geraten?

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Missbrauch in der katholischen Kirche
Bild: picture-alliance/dpa/U. Zucchi

Wer ist denn der Mann da am Kreuz? - fragt im Jahr 2030 ein 15-Jähriger in München seinen Vater. Der Vater meint: Ich glaube, das ist ein Kommunist, den die Nazis umgebracht haben. Ach so – sagt Jürgen, der sich bald in der TU-München einschreiben wird. In seiner Abiturklasse erzählt er, was er zuhause über den Mann am Kreuz gehört hat. Man sieht diesen Mann ja noch manchmal auf Kunstwerken oder Bergspitzen. Doch die Kameraden meinen: du spinnst. Das ist ein Buddhist, den die Christen ermordet haben. Andere vermuten, hier werde ein Mann gezeigt, den seine Frau betäubt und dann umgebracht hat. Ein wenig Verwirrung bleibt. Aber es interessiert ja auch keinen wirklich, denn die Jungs und Mädchen interessieren sich vor allem für die neusten Apps.

Vor wenigen Wochen haben wir am Karfreitag des Gekreuzigten gedacht. Wie viele Zeitgenossen wissen noch, wer Jesus Christus, der Gekreuzigte ist? Fahren wir in der fiktiven Szene fort.

In der Gruppe Schüler im Jahr 2030 sind auch ein paar Chinesen, die sich über ein altes Büchlein beugen, das sie Bibel nennen. Sie finden es toll, dass da so Geschichten aus alter Zeit drin stehen. Richtig Abenteuerliches. Einer von den Chinesen hat die Diskussion um den Mann am Kreuz gehört. Er fragt ein wenig scheu: Habt ihr nichts von diesem Juden Jesus erfahren, den die alten Römer in Jerusalem gekreuzigt haben? Nee, meinen einige aus der Gruppe. So altes Zeug interessiert uns nicht. Der Chinese Chou wundert sich: Aber dieser Jesus ist doch an der Quelle der europäischen Kultur so wie Kung-fu-tze an unserer Quelle steht. Auf diesen Jesus geht doch die Idee der Liebe zu allen Menschen zurück, die Nächstenliebe und die europäische Caritas. Das mag ja sein, sagen die anderen- aber wen interessiert es. Von dem hängt unsere Karriere nicht ab, auch nicht unsere Familie und berufliche Zukunft.

Ja – was wissen junge und ältere Menschen heute noch von Jesus Christus? Aber wissen eigentlich die Verantwortlichen in den Kultusministerien etwas von Jesus Christus? Kritische Fragen müssen erlaubt sein. Was geht eigentlich derzeit an Kulturwissen verloren? Merken es die Vordenker? Werden sie gehört oder überschrien? Wagen die Vordenker, laut auf Defizite hinzuweisen?

Das meiste, was man heute braucht, kann man ja googeln. Aber manches sollte man vielleicht wissen – ohne zu googeln. Wie viele Europäer haben noch eine Ahnung, warum die Menschenrechte im so genannten Westen entwickelt wurden – nicht in China, in Indien, in Arabien? Wie viele wissen, warum auch die Idee der Menschenwürde, der Rechtsgleichheit von Mann und Frau, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Westen heranwuchs, wo Christen lebten? Dass sie im Alten Testament, bei den Juden wurzeln. Ob der Europäer noch eine Ahnung davon hat, dass die ersten Zeugen Jesu Christi sich auf ihre Gewissensfreiheit beriefen und dafür starben? Sie haben damals nicht den Kaisern geopfert, sondern sind für ihre Überzeugung gestorben. Vermutlich wissen die meisten Europäer, dass der Mensch durch die Liebe reift. Aber woher und durch wen die Idee der unbedingten Liebe zu allen Menschen, vor allem zu den Armen nach Europa kam, das wissen so viele nicht mehr. Wenn Europa aber seine humane Kultur behalten soll, müssten vielleicht alle wissen, wer der Mann ist, der da am Kreuz gezeigt wird. Wer immer eine Ahnung von Jesus Christus hat, darf nicht auf Papst und Bischöfe warten. Er oder sie muss diese Ahnung Kindern und Enkeln vermitteln. Wir alle sind Träger von Kultur und auch von religiöser Kultur.

Pater Eberhard von Gemmingen SJ ist 1936 in Bad Rappenau geboren. Nachdem er 1957 in den Jesuitenorden eingetreten ist, studierte er 1959 Philosophie in Pullach bei München und Theologie in Innsbruck und Tübingen. 1968 erfolgte seine Priesterweihe. Pater von Gemmingen war Mitglied der ökumenischen Laienbewegung action 365, bischöflicher Beauftragter beim ZDF und Leiter der deutschsprachigen Redaktion von Radio Vatikan.