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Gesellschaft

Kein Schicksal für das ganze Leben

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Jens Thurau
7. Mai 2019

In Deutschland gibt es über sechs Millionen funktionale Analphabeten. Das sind zwar weniger als noch vor acht Jahren, das Problem aber bleibt dennoch weiter bestehen und ist extrem vielschichtig, meint Jens Thurau.

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Analphabetismus in MV
Bild: picture-alliance/dpa

Vor Jahren gab es diesen Werbespot im deutschen Fernsehen: ein Angestellter und sein Chef. Der Chef fragt den Mitarbeiter, ob er das hier kurz mal aufschreiben könne. Da versteinert das Gesicht des Angestellten und er gesteht, was er schon lange gestehen wollte: "Ich weder lesen noch schreiben." Einen Moment lang ist der Chef konsterniert, dann legt er dem Angestellten die Hand auf die Schulter: "Komm, da müssen wir was machen."

Versinken in der Einsamkeit

Ja, wenn es doch immer so laufen würde. Wenn die Gesellschaft Analphabetismus so tolerieren würde wie andere Beeinträchtigungen. Aber das ist eben oft nicht der Fall. Wer in einer hochkomplexen, mega-beschleunigten Welt, sowohl privat wie am Arbeitsplatz, die Grundlagen der Kommunikation kaum beherrscht, der versinkt zumeist in einem Meer der Scham und der Versagensangst. Und letztlich der Einsamkeit.

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Jens Thurau ist Korrespondent im Hauptstadtstudio

Zunächst zu den Zahlen: Nach einer aktuellen Studie, beauftragt von der Bundesbildungsministerin, gibt es im Deutschland des Jahres 2019 weniger funktionale Analphabeten als noch vor acht Jahren. Damals waren es 7,5 Millionen, jetzt sind es 6,2 Millionen. Angesichts von rund 83 Millionen Einwohnern erscheint das immer noch viel für eine der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, zudem dem Land der Dichter und Denker. Aber wirklich beängstigend sind vielleicht eher Detailergebnisse der Studie: Fast die Hälfte derjenigen, die nicht Deutsch lesen können, haben einen Migrationshintergrund und als erstes eine andere Sprache gelernt als Deutsch. Viel ist gesprochen worden in den vergangenen Jahren über die Notwendigkeit einer besseren Integration und welch wichtige Rolle dabei die deutsche Sprache spielt. Die jetzt feststehende Zahl unterstreicht, wie lange der Weg immer noch ist.

Und schon bevor die aktuelle Studie veröffentlicht wurde, haben Bildungsexperten darauf verwiesen, dass fast 19 Prozent der Zehnjährigen das sind, was die Experten "funktionale" Analphabeten nennen. Was bedeutet, dass sie nicht so lesen können, dass sie den Text wirklich verstehen. Klingt furchtbar, ist aber auch ein Zeichen der Zeit, wenn in Familien immer weniger vorgelesen wird, wenn das Smartphone das wichtigste Kommunikationsmittel ist. Eine schnelle Whatsapp-Nachricht hat eben nichts damit zu tun, sich wirklich umfassend ausdrücken zu können. Und die chronische Unterversorgung deutscher Schulen auf allen Ebenen hat dann eben irgendwann mal Folgen vor allem für die Kinder, deren Eltern selbst keine Abhilfe schaffen können oder wollen.

Weder Schande noch unabänderliches Schicksal

Aber wie vielschichtig das Leben auch ohne ausreichende Schreib-und Lesekenntnisse ist, zeigt dann doch auch diese Zahl: 62 Prozent der Menschen, die mit funktionalem Analphabetismus leben, gehen einem Beruf nach - wenn auch zumeist nicht einem mit hohem Status. Nicht lesen und schreiben zu können, kann man also sagen, ist weder Schande noch Schicksal, das einem ausgefüllten Leben im Wege stehen muss. Und ist schon gar nicht für alle Zeiten unabänderbar. Wie gesagt: "Komm, da müssen wir was machen", ist eigentlich immer noch die beste Antwort.