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Keine Sorge wegen Antiamerikanismus

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Rick Fulker
12. November 2016

Werden US-Bürger im Ausland nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten von einem neuen Antiamerikanismus heimgesucht? Das hängt von jedem selbst ab, meint DW-Kulturredakteur Rick Fulker.

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Brennendes Plakat mit Trump-Konterfei (Foto: Reuters/E. De Castro)
Bild: Reuters/E. De Castro

In den frühen 1980er-Jahren - es war die Zeit der Massenproteste gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung neuer Atomraketen in Deutschland - sagte mir ein Bekannter: "Solltest du mal an einer Kundgebung teilnehmen, wäre es besser, du gibst dich nicht als Amerikaner zu erkennen. Sonst könnte dir etwas passieren." Wenn nicht sogar Zustimmung, steckte in der Aussage zumindest Verständnis dafür, dass ich - ganz unabhängig von meiner persönlichen Meinung - als Vertreter der Regierungspolitik meines Landes wahrgenommen werden könnte. Und dass dies für mich unerwünschte Folgen haben könnte.

Deutschland Bonn Demonstration gegen Rüstung Bonner Hofgarten
In der Zeit des NATO-Doppelbeschlusses und der Nachrüstung wurde Deutschland von erbitterten Protesten heimgesuchtBild: picture-alliance/dpa/K. Rose

Seit ich 1977 als Student nach Deutschland gekommen bin, hat sich dieses Muster regelmäßig wiederholt. Plötzlich musste ich persönlich für den Vietnam-Krieg, den Völkermord an den Indianern, die Sklaverei und Diskriminierung der Afro-Amerikaner herhalten. Ich kam mir wie eine Projektionsfläche vor, auf die jedes erdenkliche Vorurteil automatisch ausstrahlte. Ich wurde in Diskussionen gezogen, die ich nicht gesucht habe - und lernte unheimlich viel dabei. Auch meine eigene Meinung kennen und kundzutun.

Kulturgeschockt stellte ich fest, dass in meinem Gast-Land die Gruppenzugehörigkeit - und die Kehrseite davon, das Vorurteil - stärker ausgeprägt waren, als ich das bis dahin aus meiner Heimat kannte, dem Land des Individualismus.

Erst die Sprache, dann Dialog, und danach Verständnis

Das hat sich inzwischen geändert. Je besser ich Deutsch beherrschte, desto seltener wurden die spontanen Vereinnahmungen. Vom Prototyp des US-Amerikaners wurde ich zum wahrgenommenen Individuum.

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DW-Kulturredakteur Rick Fulker ist US-Amerikaner

Diskriminierung zielt immer auf das Kollektiv. Wenn man jemanden näher kennen lernt - egal wen und wo - sieht man stets weniger Stereotyp und mehr Mensch.

Diese Erkenntnis wird uns durch das hinweg helfen, was Jan Böhmermann "Amerikas 11/9" nennt. Seine Twitternachricht am Morgen nach der Wahl, in dem er den Begriff "9/11" umdreht - jeder kennt den Tag der Terrorangriffe in den USA 2001 - scheint weniger Selbstgerechtigkeit, als Trauer und Sorge um das Land und seine Leute auszudrücken.

Sie kam nach einem Wahlkampf, in dem das Vorurteil brutal als politische Waffe eingesetzt wurde. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten hat sich in den vergangenen 40 Jahren polarisiert und ideologisiert. Menschen dort definieren sich selbst inzwischen stark über ihre Gruppenzugehörigkeit - sei es eine Religionsgemeinschaft oder politische Partei.

USA Washington Anti-Trump Protest Wahlnacht
Geburt einer neuen ProtestkulturBild: picture-alliances/dpa/M. Reynolds

Heiße Sprüche, lauwarmes Regieren

Die beiden Präsidentschaftskandidaten schlugen mit apokalyptischen Szenarien um sich, und derjenige, der eine "Revolution" verhieß, hat nun gewonnen.

Dennoch gilt das deutsche Sprichwort, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. 

Schließlich fand diese Protestwahl in einem Land statt, in dem Gewaltenteilung herrscht. Viele Wähler wissen, dass Donald Trump sein Programm allenfalls Stück für Stück umsetzen kann. Auch ein Präsident Obama hatte viele Hoffnungen geweckt, die er - aus welchen Gründen auch immer - nicht erfüllen konnte.  

Rückexport der Werte

Freier Handel, die Globalisierung und ihre Folgen sowie der Kampf gegen die bisherigen Eliten sind die Reizworte, die Trump ins Weiße Haus gespült haben. Auch wenn viele fürchten, er werde autokratisch regieren - eine Gleichschaltung der Meinungen wird es gewiss nicht geben. Schon jetzt ist die Wiedergeburt einer lebendigen Protestkultur zu beobachten. Und nicht zuletzt mit seinen derben Sprüchen hat der neue Präsident einen Feldzug gegen die Political Correctness geführt. Denn auch diese ist eine Bedrohung für das freie Denken und die offene Diskussion.  

Washington US Wahlen Flagge USA
Trauer - und irgendwie Hoffnung - schienen diese Bürgerinnen am Wahlabend ausdrücken zu wollenBild: picture-alliance/dpa/M. Reynolds

Für den Traum der individuellen Selbstbestimmung werden Amerika und Amerikaner überall auf der Welt bewundert. Er war immer eine Quelle der Innovation, der Kreativität und des Fortschritts und verlieh der amerikanischen Kultur, auch ihrer Unterhaltungskultur, eine so starke Anziehungskraft.

Deshalb kann ich längst die eine oder andere geäußerte Kritik an der US-Politik gut verkraften. Unabhängig davon, was aus dem freien Welthandel wird: Es geht nun darum, einige amerikanische Werte dorthin zurück zu exportieren.

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