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Politik

Harmonie vor neuen Stürmen

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Jens Thurau
10. November 2018

Die Grünen finden sich gerade selbst ganz gut. Kein Wunder nach den Wahlerfolgen der letzten Zeit. Auf ihrem Parteitag in Leipzig holen sie mal kurz Luft und wappnen sich für ganz neue Kämpfe, meint Jens Thurau.

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Deutschland Parteitag Die Grünen in Leipzig
Bild: picture-alliance/dpa/H. Schmidt

Wie war das nur früher auf Parteitagen der Grünen? Es gab stundenlangen Streit auch noch um die letzte Formulierung in Anträgen, meist handelte es sich um Stellvertreterschlachten zwischen dem linken und dem rechten Parteiflügel. Es ging um Anforderungen, die pragmatische Realpolitiker an den Idealismus linker Flügelvertreter stellten, um Zumutungen also. Die Grünen waren eine streitlustige Partei, um es vorsichtig auszudrücken.

Und jetzt? Nach überragenden Ergebnissen bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern, nach denen sie viele Beobachter auf dem Weg zur neuen Volkspartei sehen, stellen sich die Grünen für den kommenden Europawahlkampf auf und wählen auf dem Parteitag in Leipzig ihre beiden Spitzenkräfte dafür: Ska Keller und Sven Giegold, beide schon erfahrene Europa-Abgeordnete, bekommen Mehrheiten, die früher bei den Grünen als nicht stubenrein gegolten hätten. Keller bekommt fast 90 Prozent Zustimmung, Giegold sogar weit über 90.

Eine Partei mit sich im Reinen

Das hat damit zu tun, dass die Grünen gerade sehr mit sich im Reinen sind. Die Grabenkämpfe der Vergangenheit braucht keiner mehr, weil viele Schlachten der Vergangenheit schlicht geschlagen sind. Deutschland steigt aus der Atomkraft und demnächst auch aus der Kohle aus, offen ist nur noch der Zeitpunkt, das wissen die Grünen. Wesentliche Forderungen in der Gesellschaftspolitik sind erfüllt, die "Ehe für Alle" ist Realität. Und auf allen anderen Schlachtfelder stehen die Grünen zusammen: Das klare Eintreten gegen Rechtspopulismus und für ein geeintes und grenzen-freies Europa ist eine der Hauptgründe für die Stimmenzuwächse von allen Seiten, auch von konservativen Wählern.

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DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Die neuen Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck schaffen eine geänderte Ansprache an die Menschen, frei von der alten intellektuellen Überheblichkeit. Und kommen in den Dialog mit Schichten der Gesellschaft, die sich noch vor Kurzen wohl gar nicht hätten vorstellen können, mit den früher systemkritischen Weltverbesserern überhaupt zu reden.

Aber eine Volkspartei sind die Grünen deswegen noch lange nicht. Und sie wissen das. In den neuen Bundesländern etwa fehlt ihnen eine wirklich tragbare Basis, Wahlergebnisse um die 20 Prozent sind dort nicht denkbar. Die Grünen sind im Wesentlichen eine West-Partei. Sie halten sich jetzt zwar bereit, demnächst einer neuen Bundesregierung anzugehören, wenn denn das fragile Bündnis von CDU/CSU und SPD zerbricht. Aber dann stellen sich viele Fragen neu, dann müssen die Grünen weiteren Verschärfungen etwa in der Asylpolitik zustimmen.

Und im Inland finden sich gerade zwar genug Menschen, die den klaren EU-freundlichen Kurs der Partei attraktiv finden, in Europa selbst aber stehen die Zeichen eher auf Populismus und Nationalismus. Mit anderen Worten: Nach der Zäsur, die die erste Regierungsbeteiligung zwischen 1998 und 2005 für die Grünen bedeutete, könnte demnächst eine weitere anstehen, wenn die Grünen denn springen. Diesmal in ein Bündnis mit Unionsparteien und FDP.

Und jetzt kurz mal durchatmen

Aber gewappnet sind die Grünen dafür. Fast geräuschlos und mit satten Mehrheiten wählten die Grünen in Leipzig ihre zumeist extrem jungen Kandidaten für das nächste EU-Parlament. Wer da welchem Parteiflügel angehörte, war nicht mehr erkennbar. Es geht mehr um Leidenschaft für die grünen Kernthemen, um die Begeisterung für Europa. Wir sind eine fröhliche, optimistische Partei, fasste eine Kandidatin das zusammen. Und erhielt tosenden Applaus. Und die Bundespolitiker atmen in Leipzig mal kurz durch. Wer weiß, in welche Stürme die Partei demnächst gestürzt wird.