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Gesellschaftskunde im Gerichtssaal

Marcel Fürstenau7. März 2015

Das Verfahren gegen den NSU bietet jenseits seines strafrechtlichen Kerns Anschauungsmaterial über den Zustand des Landes. Das macht, unabhängig von der Schuldfrage, den Prozess so interessant, meint Marcel Fürstenau.

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Die Ahuaptangeklagte im NSU-Prozess, Beate Zschäpe, dreht Fotografen und Kameraleuten den Rücken zu.
Bild: picture-alliance/dpa

Dieser Prozess entzieht sich allen üblichen Maßstäben - qualitativ und quantitativ. Seit 22 Monaten wird vor dem Münchener Oberlandesgericht gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer "wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung" verhandelt. Der Generalbundesanwalt wirft der 40-Jährigen Hauptangeklagten vor, "in zehn Fällen heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet zu haben". Im Strafverfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) geht es also um Serienmord - die Opfer starben im Zeitraum 2000 bis 2007.

Der Fall ist einzigartig in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte. Erst recht in Verbindung mit dem Vorwurf, aus "nationalsozialistisch geprägten völkisch-rassistischen Vorstellungen" gehandelt zu haben. Dieses Motiv wiegt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte besonders schwer. Deshalb war nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 sofort klar, dass Deutschland eine nie dagewesene Herausforderung zu meistern haben würde. Das gilt in juristischer wie in politischer Hinsicht. Der NSU-Prozess bewegt sich in einem enormen Spannungsfeld. Auf der einen Seite das unantastbare Gesetz der Gewaltenteilung, auf der anderen die aufgeladene Erwartungshaltung.

Im NSU-Prozess geht es um individuelle Schuld

Alles andere als eine lebenslange Haftstrafe für die Hauptangeklagte würde Unverständnis und Empörung auslösen - bei den Hinterbliebenen, den Opfern von Bombenanschlägen, aber auch bei vielen Anderen. Von diesen menschlich sehr verständlichen Gefühlen dürfen und werden sich die Richter unter dem Vorsitz von Manfred Götzl nicht leiten lassen. Sie müssen gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit ihre Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit unter Beweis stellen. Das gelingt ihnen und das ist beruhigend.

DW-Hauptstadtkorespondent Marcel Fürstenau
DW-Hauptstadtkorespondent Marcel FürstenauBild: DW/S. Eichberg

Inhaltlich scheint der NSU-Prozess nach 190 (!) Verhandlungstagen seit dem 6. Mai 2013 kaum mehr Neues bieten zu können. Zschäpes zu erwartende Verurteilung dürfte überwiegend auf Indizien und den Einschätzungen vieler Sachverständiger basieren. Mit der Verkündung des Strafmaßes in diesem oder im nächsten Jahr wird allerdings nur die individuelle Schuld bewertet. Die hinter den abscheulichen Taten steckende gesellschaftliche und politische Dimension bedarf einer weit über den Tag hinausreichenden Auseinandersetzung. Dafür liefert auch und gerade der NSU-Prozess viel Stoff.

Militanter Rechtsextremismus ist weit verbreitet

Regelmäßigen Beobachtern des Geschehens in München bleiben nicht zuletzt die vielen Zeugen aus dem sogenannten Umfeld der mutmaßlichen Täter in Erinnerung. Beate Zschäpe und ihre beiden toten Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos waren in der Schilderung fast aller Wegbegleiter aus der Nazi-Szene mehr oder weniger sympathische Typen. Gegen Ausländer zu sein, war in diesem Milieu ganz normal. Dass da mal im Suff oder nur so zum Spaß jemand verprügelt wurde, gehörte dazu.

Rechtsextremismus war und ist in diesen Kreisen normal. Dieser Befund ist alles andere als neu. Seit vielen Jahren wird er regelmäßig in Sozialstudien bestätigt. In einem Gerichtsverfahren hat es eine derart weitgehende, entlarvende Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in bestimmten Regionen Deutschlands noch nie gegeben. Und es lässt aufhorchen, wenn ein Zeuge ausnahmsweise sein rechtsextremes Weltbild selbst als paradox bezeichnet: "Wir kannten zwar keine Ausländer, waren aber trotzdem alle ausländerfeindlich." So war das damals, als aus den jungen Neonazis die mutmaßlichen Mörder Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos wurden.

Das Misstrauen ist gewachsen

Niemand kann garantieren, dass sich Andere daran ein Beispiel nehmen. Vielleicht ist Burak Bektas tatsächlich Opfer von Nachahmungstätern geworden. Der 22-Jährige wurde am 5. April 2012 in Berlin-Neukölln auf der Straße erschossen, zwei Jugendliche erlitten lebensgefährliche Verletzungen. Am vergangenen Freitag veranstalteten Angehörige, Freunde und antirassistische Gruppen am Rande des NSU-Prozesses in München eine Mahnwache. Die Ermittler tappen auch drei Jahre nach dem Verbrechen im Dunkeln. Die wahren Hintergründe der NSU-Mordserie blieben elf Jahre unerkannt und wären es ohne die Selbstenttarnung der Terrorgruppe wohl noch heute.

So wenig der Tod Burak Bektas' mit dem NSU zu tun hat und so wenig ein rassistisches Tatmotiv bewiesen ist, zeigt die Verknüpfung mit dem Münchener Prozess aber eines: wie groß das gegenseitige Misstrauen teilweise geworden ist. Leider gibt es dafür viele plausible Gründe, die auch im NSU-Prozess eine Rolle spielen. Neben vermeintlich ahnungslosen Zeugen aus der Nazi-Szene sind es vor allem fragwürdige Gestalten aus den Reihen des Verfassungsschutzes. Ihre mitunter höchstverdächtigen Kontakte zu gewaltbereiten Rechtsextremisten unterhöhlen ihre Glaubwürdigkeit und damit letztendlich auch die des Staates.

Alle müssen über die Ursachen von Rassismus nachdenken

Es ist nicht Aufgabe der Richter im NSU-Prozess, eine Bewertung zum alltäglichen Rassismus abzugeben. Sie müssen nach bestem Wissen und Gewissen ein Urteil fällen. Über die darüber hinausgehende gesellschaftliche Verantwortung für ein Klima, in dem solche Taten passieren, sollten sich alle Gedanken machen. Der NSU-Prozess bietet dafür eine Menge Anschauungsmaterial. Es ist Gesellschaftskunde im Gerichtssaal.