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Politik

Erdogans Sieg ist nicht sicher

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Seda Serdar
23. Juni 2018

Für die Türkei sind die Wahlen am Sonntag eine politische Schicksalsfrage. Autokratie oder parlamentarische Demokratie? Die Abwahl von Präsident Erdogan würde die Wiedergeburt der Nation einleiten, meint Seda Serdar.

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Bildergalerie Türkei Präsident Recep Tayyip Erdogan
Bild: picture-alliance/dpa/H. Kaiser

Die Türkei steht am Scheideweg: Die historischen Wahlen am Sonntag entscheiden darüber, ob Präsident Erdogan künftig mit maximalen Machtbefugnissen ausgestattet wird oder eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie möglich ist.

Nach den jüngsten Umfragen des "Gezici Research Institute" aus London wird die bisherige Regierungspartei AKP voraussichtlich ihre Mehrheit im Parlament verlieren. Bei den Präsidentschaftswahlen prognostizieren die Meinungsforscher eine Stichwahl zwischen Amtsinhaber Erdogan (48 Prozent) und dem Oppositionskandidaten Muharrem Ince von der Republikanischen Volkspartei CHP.

Bereit zum Neustart

Aber wie vertrauenswürdig sind diese Meinungsumfragen? In der Vergangenheit haben sich die meisten Prognosen als wenig zuverlässig erwiesen. Hinzu kommt, dass die Zahl der noch unentschlossenen Wähler in diesem Jahr zugenommen hat. Und schließlich ist es nicht überraschend, dass viele Wähler sich angesichts des politischen Klimas unter Erdogan sich nicht trauen, ihre wirkliche Meinung öffentlich zu äußern.

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Seda Serdar leitet die Türkische Redaktion der DW

Doch egal was die Meinungsforscher sagen: Die Türkei ist bereit für einen Neustart. Die Opposition hat einen starken Wahlkampf mit starken Kandidaten geführt. Vielleicht sogar die effektivste Kampagne innerhalb der vergangenen 16 Jahre. CHP-Kandidat Ince ist wortgewandt und könnte Erdogan mit seinen eigenen Waffen schlagen.

Auch andere Oppositionspolitiker geben Erdogan contra. Meral Akşener von der neuen nationalkonservative Iyi-Partei genießt es, die Wahlversprechen des Amtsinhabers lautstark auseinanderzunehmen. Und Selahattin Demirtaş von der pro-kurdischen HDP ist größer als die Gefängniszelle, in der er sitzt und aus der heraus er Wahlkampf betreibt. Seine humorvollen Tweets haben die digitalen Netzwerke erobert.

Dies alles sind hoffnungsvolle Zeichen für die türkischen Wähler, die es unter der düsteren und bedrückenden AKP-Herrschaft bisher nicht gab. Außerdem scheinen die türkischen Bürger aus ihren früheren Fehlern gelernt zu haben: An diesem Wahltag werden wahrscheinlich mehr Leute in die Wahllokale gehen als an den Strand.

Erster Schritt: Faire Wahlen

Veränderung liegt in der Luft, doch damit sie Wirklichkeit werden kann, braucht es faire Wahlen. Die Wahlbeobachter und die Opposition sind vorbereitet: Sollte es zu Manipulationen oder offenem Wahlbetrug kommen, stünde die Regierung diesmal stark unter Druck, denn die Bevölkerung ist unzufrieden mit der Lage im Land. 

Die Liste der Probleme ist lang: Die türkische Lira hat in den vergangenen zwei Jahren 50 Prozent ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. Seit dem von Erdogan verhängten Ausnahmezustand machen ausländische Investoren einen Bogen um das Land. Das gesamte Justizwesen liegt am Boden. Tausende Türken haben ihre Arbeit verloren, viele sind verhaftet worden. Inländische Medien stehen unter Kontrolle, und für die kleine Anzahl von Verlagen, die noch unabhängig berichten, wird die Luft immer dünner.

Der Tag danach

Im Gegensatz zur unglücklichen Auswahl des CHP-Präsidentschaftskandidaten im Jahr 2014 schickt die Republikanische Volkspartei diesmal mit Muharrem Ince einen echten Herausforderer gegen Erdogan ins Rennen. Zusammen mit Erdogans schwachem Agieren im Wahlkampf, der schlechten Wirtschaftslage im Land und der Sehnsucht nach politischer Veränderung verringert dies die Chancen auf einen erneuten Sieg des amtierenden Staatspräsidenten - zumindest im ersten Wahlgang.

Wenn die AKP die Mehrheit im Parlament verliert und Erdogan in die Stichwahl muss, wäre dies für die Opposition einer enormer Gewinn an Selbstvertrauen und Hoffnung. Aber es braucht noch mehr: Ince's Sieg im zweiten Wahlgang ist notwendig, damit die Türkei ihre finanziellen und innenpolitischen Herausforderungen bewältigen und endlich die schmerzvolle Wiedergeburt einer Nation eingeleitet werden kann.

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