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Politik

Das Wegsehen muss ein Ende haben

Soric Miodrag Kommentarbild App
Miodrag Soric
2. Juli 2020

Der Corona-Ausbruch bei Tönnies hat allen die Augen geöffnet: In der Fleischindustrie wird unter grauenhaften Bedingungen produziert. Selten war die Gelegenheit günstiger für einen radikalen Wandel, meint Miodrag Soric.

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Coronavirus - Ausbruch bei Tönnies
Bild: Imago Images/biky/M. Stepniak

Manches will man so genau gar nicht wissen. Etwa, woraus eigentlich konkret Wurst gemacht wird. Oder wie die greise Nachbarin ihre polnische Pflegekraft finanziert. Auf welchen Webseiten der pubertierende Neffe Spielfilme herunterlädt, noch bevor sie in den Kinos kommen. Wie und von wem Kinder sexuell missbraucht werden. Oder was in Schlachthöfen passiert. Es gibt Themen, bei denen die Gesellschaft gerne wegschaut. In der Regel wird es schmerzhaft, wenn ein unvorhergesehenes Geschehen einen dann plötzlich zwingt hinzusehen.

Solch ein Ereignis ist die Corona-Pandemie, genauer: Ihr Ausbruch in der Großschlachterei Tönnies in Westfalen. Sie hat Politiker und Anwohner genötigt, endlich genau hinzuschauen: Wie die Löhne der Werksarbeiter gedrückt, die Sozialstandards immer weiter abgesenkt wurden. Wie Woche für Woche tausende Menschen aus Rumänien, Polen oder Bulgarien benutzt, verschlissen und am Ende, wenn sie krank geworden sind, in ihre Heimat "entsorgt" werden - wie ein kaputtes Radio, das nicht mehr zu gebrauchen ist. Die Werksarbeiter im Großschlachthof Tönnies würden wie "Wegwerfmenschen" behandelt, hat ein katholischer Seelsorger  schon vor geraumer Zeit geklagt. Über 1500 von ihnen haben sich inzwischen mit dem Coronavirus infiziert, einige müssen auf Intensivstationen behandelt werden.

Die Chance zu grundlegenden Veränderungen

Damit das Virus sich nicht weiter ausbreitet, hat die Politik zwischenzeitlich einen sogenannten Lockdown über zwei Landkreise verhängt. Alle Schulen und Kindergärten, Museen, Hallenschwimmbäder, Kinos und vor allem der Großschlachthof wurden geschlossen. In einem der Kreise wurde dieser Lockdown bereits wieder aufgehoben, im anderen noch nicht.

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DW-Chefkorrespondent Miodrag Soric

Kehrten die Anwohner in der Umgebung der Großschlachterei Tönnies zum Alltag zurück, ohne dass es zu grundlegenden Veränderungen käme, wäre das tragisch. Es hieße, eine Chance zu verpassen, die sich so schnell nicht wieder ergeben dürfte. Die Chance, eine mächtige Industrie in dieser Region - die Fleischverarbeitung - zu reformieren; die Aussicht, die Ausbeutung Tausender Menschen zu beenden; die Perspektive, das im Zuge des Infektionsskandals im Ausland ramponierte Ansehen Deutschlands wieder herzustellen; und nicht zuletzt die Möglichkeit, der um sich greifenden Verrohung der Gesellschaft Einhalt zu gebieten.

Endlich strengere Gesetze

Noch sind es nur Pläne der Regierung, doch der Bundestag wird wohl in Kürze strengere Gesetze beschließen. Werkverträge sollen eingeschränkt, möglicherweise gar verboten werden. Berlin möchte außerdem den Tiertransport strenger regulieren und die Viehhaltung artgerechter gestalten. Tatsächlich darf das Fleisch einer lebendigen Kreatur nicht zur billigen Massenware verkümmern.

Und plötzlich will auch der Unternehmer Clemens Tönnies alles anders machen. Er und sein Management - dieses Konzentrat unternehmerischer Untugenden - scheinen den Widerstand gegen Veränderungen in ihrer Branche aufzugeben. Doch niemand sollte sich von ihnen blenden lassen: Zu oft haben die Kotelett-Könige bereits Besserung gelobt, um dann doch nur die eigene Brieftasche zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Dabei ist es ein Anachronismus, dass ausgerechnet der moderne Industriestaat Deutschland  Schweinefüßchen bis nach China exportiert. Und es ist eine Schande, dass diese Form der Sklavenarbeit mitten in Deutschland möglich ist.

Engherzige Argumentation

Doch nicht alle in Deutschland befürworten eine strengere Regulierung der Fleischindustrie. Denn am Ende wird diese zu höheren Lebensmittelpreisen führen. Da wird plötzlich engherzig argumentiert - es werde ja niemand gezwungen, in Deutschland zu arbeiten. Doch dem widerspricht schon das Grundgesetz. Dort heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die Grundrechte sind allen Menschen zwischen Rhein und Oder garantiert - ganz gleich, woher sie kommen, woran sie glauben, ob sie jung oder alt, reich oder arm sind.

In Wirklichkeit sind oft eine in Deutschland unvorstellbare Armut oder die Krankheit eines ihrer Liebsten die Gründe, weshalb die Menschen aus Ost- und Südosteuropa hierher kommen. Die meisten erhalten für ihre Schwerstarbeit noch nicht einmal den dafür gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Und ihre Arbeitgeber zwingen sie zu Überstunden, für die es gar keinen Lohn gibt.

Auch wenn der Lockdown in Gütersloh bald endet: Die Fleischindustrie muss sich radikal ändern, am besten in ganz Europa. Sie ist um der Menschen willen da - und nicht umgekehrt.