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Lebenszeichen

30. November 2007

In Kolumbien gibt es zum ersten Mal seit Jahren Lebenszeichen der verschleppten Politikerin Ingrid Betancourt und anderer Geiseln. Das Land steckt seit Jahren in einem verheerenden Bürgerkrieg fest.

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Ingrid Betancourt (AP Photo/Colombia's Presidency)
Freigegeben von der kolumbianischen Regierung: ein Foto der früheren PräsidentschaftskandidatinBild: AP

Die Armee des Landes nahm drei Rebellen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) fest, bei denen sie insgesamt fünf Videobänder mit Beweisen fand, dass 16 Geiseln am Leben sind. Das teilte die Regierung am Freitag (30.11.2007) mit. Die Videos zeigten unter anderem Bilder von der früheren Präsidentschaftskandidatin Betancourt und von drei entführten US-Bürgern. Die Videos wurden ohne Ton auf einer Pressekonferenz gezeigt. Betancourt wirkt darauf mager und apathisch, sie ist offenbar gefesselt.

Andere Aufnahmen zeigen demnach gefangen gehaltene kolumbianische Polizisten, Politiker und Soldaten. Kopien der Videobänder sollen an die Regierungen Frankreichs und der USA geschickt werden. Außerdem plant Kolumbiens Regierung, sie zu veröffentlichen und den Familien der Geiseln zu übergeben.

Freude in Frankreich

Die insgesamt fünf Bänder seien bei der Festnahme von drei mutmaßlichen FARC-Mitgliedern am Donnerstag beschlagnahmt worden, sagte der kolumbianische Friedensbeauftragte Luis Carlos Restrepo. Ein Sprecher des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy erklärte, die Aufnahmen bewiesen, dass Betancourt noch am Leben sei. "Das ist der erste Lebensbeweis seit mehr als fünf Jahren", sagte David Martinon und forderte die FARC auf, ihre Geiseln freizulassen.

Ingrid Betancourt, die neben der kolumbianischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt, war am 23. Februar 2002 im Präsidentschaftswahlkampf in einem von der FARC kontrollierten Gebiet 600 Kilometer südlich von Bogotá entführt worden. Es gab in den vergangenen Jahren nur sehr wenige Lebenszeichen von ihr.

Teils alte Aufnahmen

Die Aufnahmen Betancourts datieren nach kolumbianischen Angaben auf den 24. Oktober, die der Amerikaner stammen von Anfang des Jahres. Die Truppen hätten außerdem mehrere Briefe gefunden, die offenbar von den Geiseln geschrieben wurden, sagte Restrepo. Darunter sei einer von Betancourt an ihre Mutter, ebenfalls datiert auf den 24. Oktober.

Eine FARC-Kämpferin bewacht 242 Polizisten und Soldaten, die bei einem Kampf verhaftet und später wieder freigelassen wurden (AP Photo/Ricardo Mazalan)
Eine FARC-Kämpferin bewacht 242 Polizisten und Soldaten, die bei einem Kampf verhaftet und später wieder freigelassen wurden (Archiv-Foto)Bild: AP

Die FARC halten etwa 50 Geiseln zum Teil seit Jahren fest. Im Austausch für die Verschleppten verlangen die Rebellen die Freilassung hunderter inhaftierter Gesinnungsgenossen.

Gescheiterte Vermittlung

Ein Vermittlungsversuch des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez scheiterte, weil der kolumbianische Präsident Alvaro Uribe Chávez am 21. November sein Mandat entzog. Uribe begründete seine Entscheidung damit, dass Chávez in den Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln seine Kompetenzen überschritten habe. Dabei verwies Uribe auf eine direkte Anfrage von Chávez beim kolumbianischen Armeechef Mario Montoya. Demnach bat Chavez um Informationen über die Geiseln. Dies habe gegen eine Vereinbarung verstoßen, wonach auf kolumbianischer Seite ausschließlich Uribe der Ansprechpartner für Chavez während der Verhandlungen sein sollte.

Chávez bemühte sich mehrere Monate um eine Vermittlung im kolumbianischen Bürgerkrieg. Noch einen Tag vor dem Ende seines Mandats hatte er ein Lebenszeichen von Betancourt in Aussicht gestellt. FARC-Chef Manuel Marulanda habe ihm das Lebenszeichen "bis Ende des Jahres" schriftlich versprochen, sagte Chávez laut Medienberichten nach einem Treffen mit Sarkozy in Paris.

Lesen Sie weiter: Die Hintergründe des Bürgerkriegs und der Entführungen.

40 Jahre Bürgerkrieg

Zwei FARC-Kämpfer vor einem bei Kämpfen zerstörten Haus etwa 250 südwestlich von Bogota (AP Photo/Oswaldo Paez)
Zwei FARC-Kämpfer vor einem bei Kämpfen zerstörten Haus (Archiv-Foto)Bild: AP

In Kolumbien dauert der bewaffnete Konflikt zwischen linksgerichteten Aufständischen, rechtsextremen Paramilitärs und den regulären Streitkräften seit über 40 Jahren an. Jüngste Opfer der Kämpfe waren elf Abgeordnete. Deren Leichen übergab die FARC am 4. September dem Internationalen Roten Kreuz. Wie die kolumbianische Zeitung "El Tiempo" berichtete, fand die Übergabe im Gebiet von Nariño und Cauca im Südosten statt. Nach Angaben der Guerilla waren die Geiseln, die seit fünf Jahren in ihrer Gewalt waren, bei einem Befreiungsversuch der Armee getötet worden. Die Regierung bestreitet dies. Die Aufständischen hielten die Toten zuerst lange zurück, weil ihnen die Regierung Sicherheitsgarantien verweigerte.

In der Gewalt der linksgerichteten FARC befinden sich noch mehr als 50 prominente Geiseln. Die Guerilla hat signalisiert, 45 Geiseln freizulassen, darunter Betancourt, wenn die Regierung 500 inhaftierte Rebellen entlässt und sich das Militär aus dem Gebiet der FARC zurückzieht, das etwa so groß ist wie die Schweiz.

Viele Binnenflüchtlinge

Binnenflüchtlinge, Foto: dpa
Binnenflüchtlinge (Archiv-Foto)Bild: picture-alliance/dpa

Terror und Faustrecht überschatten das tägliche Leben vieler der 43,6 Millionen Kolumbianer. Sie sind mehrheitlich Mestizen hispanisch-indianischer Abstammung. Rebellen der FARC und der ebenfalls linksgerichteten Organisation ELN sowie rechte Paramilitärs drangsalieren die Bevölkerung und liefern sich Kämpfe mit der Armee. In den 32 Provinzen des Anden-Staates gibt es mehrere hunderttausend Binnenflüchtlinge.

Kolumbien war in den vergangenen Jahren das Land mit den meisten Entführungen. Lösegelder für die mitunter jahrelang festgehaltenen Geiseln gehören zu den Haupteinnahmequellen der Rebellen. Auch die "Besteuerung" des florierenden Drogenhandels bringt Geld in ihre Kassen; Schätzungen zufolge sind es jährlich etwa 300 Millionen Dollar.

US-Entwicklungshilfe ohne Wirkung

Ein Kameramann läuft durch ein Feld mit Marihuana-Beuteln, die Soldaten sichergestellt haben (AP Photo/ Inaldo Perez)
Ein Kameramann läuft durch ein Feld mit Marihuana-Beuteln, die Soldaten sicher gestellt haben (Archiv-Foto)Bild: AP

Seit 2000 haben die USA Kolumbiens Regierung vor allem für den Drogenkrieg rund vier Milliarden US-Dollar gezahlt. Kolumbien ist damit einer der größten Empfänger von US-Entwicklungshilfe und einer der wichtigsten US-Verbündeten in Lateinamerika.

Die "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" bilden die größte und älteste Guerilla-Organisation des südamerikanischen Landes; die 15.000 bis 18.000 Kämpfer der FARC bescheren der Armee manche Niederlage.

Die Geburtsstunde der FARC

Die FARC wurde 1964 von Marxisten gegründet und stellt heute auf ihrer Homepage im Internet (www.farc-ep.org) den Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden heraus. Der über 70-jährige Manuel Marulanda, genannt "Tirofijo" ("Sicherer Schuss") ist Chefkommandant der Rebellen. Der Bauernsohn aus der Kaffeeprovinz Quindío griff bereits 1949 zu den Waffen - als Freischärler, der sich im damaligen Bürgerkrieg gegen konservative Großbauern zur Wehr setzte.

Zu ihrer Geburtsstunde haben die Guerilleros eine folgenschwere Episode im Mai 1964 erklärt: Unterstützt von US-Beratern, fielen 16.000 Soldaten zu Lande und aus der Luft in ein enges Tal in den Zentral-Anden ein, wo ein paar Dutzend Bauern das Land im Kollektiv bestellt hatten. Zusammen mit gut 40 Gesinnungsgenossen entkam Marulanda der Armeeoffensive und bildete die ersten mobilen Guerilla-Einheiten, die sich 1966 in "Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens" umbenannten. Lange Jahre überlebte die FARC, indem sie Kleinbauern in abgelegenen Gebieten im Widerstand gegen Großgrundbesitzer half.

In den 1980er-Jahren führte die FARC erste Friedensgespräche und wollte mit der Linkspartei "Patriotische Union" (UP) einen politische Bewegung aufbauen. Doch daraus wurde nichts: Armee und rechtsextreme Todesschwadronen ermordeten mehr als 3000 UP-Aktivisten. Daraufhin bauten "Tirofijo" und seine Leute ein schlagkräftiges "Volksheer" auf, das bis heute im Bürgerkrieg liegt mit der Regierung des Landes. (mas)