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Kolonialismus: Die Geschichte der Sieger

Silja Fröhlich
9. Oktober 2020

In manchem afrikanischen Schulbuch versteckt sich noch immer kolonialistisches Gedankengut. Viele Afrikaner sagen: Es ist Zeit, Afrikas Geschichte aus Afrikas Perspektive zu erzählen.

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Historische Darstellung der Gründung der deutschen Kolonie "Groß-Friedrichsburg" an der Goldküste (dem heutigen Ghana)
Viele Geschichtsbücher spiegeln die Sicht der Eroberer wiederBild: picture-alliance/akg-images

Der drittlängste Fluss in Afrika ist der Niger. Doch wer hat den eigentlich entdeckt? Schlägt man ein nigerianisches Geschichtsbuch auf, so ist die Antwort schnell klar: der schottische Endecker Mungo Park im Jahr 1796.

Auch Faith Odele hat das in ihrer Schulzeit so gelernt. "Doch ich habe angefangen, mich zu wundern", sagt die Historikerin, die Geschichten aus Nigerias Vergangenheit für Kinder sammelt. "Gab es den Fluss nicht schon, bevor Mungo Park hierher kam? Gab es keine Menschen, die im Fluss fischten? Warum bringen Nigerianer ihren Kindern bei, dass Mungo Park den Niger entdeckt hat?"

Die Perspektive der Kolonialherren

Es gibt noch weitere Beispiele. In einem sozialwissenschaftlichen Lehrbuch aus Ghana werden Schüler gefragt: "Was sind positive Auswirkungen des Kolonialismus?" Die Antwortmöglichkeiten: "A. Einrichtung von Schulen, B. Einführung der englischen Sprache, C. Interesse an ausländischen Waren, D. Wachstum der Städte".

Sudan Buch ' Africa - Romanticised German view of the 'Scramble for Africa'
Viele deutsche Bücher verherrlichten die Kolonialzeit - in manchen afrikanischen Büchern finden sich bis heute ähnliche GedankenBild: picture-alliance/CPA Media Co. Ltd

60 Jahre nach dem offiziellen Ende der Kolonialherrschaft in Afrika scheint es, als ob die Vergangenheit den Geschichtsunterricht vieler afrikanischer Länder immer noch prägt. "Ich habe nur wenig über die Perspektive meiner Leute gelernt", erinnert sich die Schriftstellerin Siyanda Mohutsiwa, aus Botsuana. "Der geschichtliche Fokus liegt nur auf der Unabhängigkeit 1966."

Die Sicht Europas

Um mehr über die Geschichte Botsuanas zu lernen, nahm Mohutsiwa zusätzlichen Unterricht in Setswana, der Amtssprache Botsuanas. "In Setswana bedeutet Kolonialismus 'Veränderung'", so Mohutsiwa im DW-Interview. "Das ist eine sehr hygienische Version dessen, was passiert ist. Es war fast so, als ob die Lehrer versuchten, diese Ära zu vermeiden. Als ob jemand vor 20 Jahren gesagt hätte: Das dürft ihr nicht unterrichten."

Im Unterricht lernte Mohutsiwa etwas über den Wettlauf um Afrika Ende des 19. Jahrhunderts - zum Beispiel aus der Sicht des deutschen Kaisers und Großbritanniens. "Denn die haben diese Bücher geschrieben. Also saß ich da und dachte mir: Hoffentlich bekommt Deutschland das, was es möchte."

Die Lehrpläne der Kolonialmächte

Laut Mohutsiwa wurzelt das Problem tief in der Vergangenheit. "Als das Bildungswesen, wie wir es kennen, in Großbritannien in der Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt wurde, geschah das zur gleichen Zeit wie die koloniale Expansion. Die britische Bevölkerung musste davon überzeugt werden, dass es eine gute Idee ist, Menschen zu versklaven." Und diese Mentalität exportierten die europäischen Mächte auch in ihre Kolonien.

Kongokonferenz Berlin
Auf der Kongokonferenz 1884/85 in Berlin teilten die europäischen Mächte Afrika unter sich aufBild: picture-alliance/akg-images

Das sei tief problematisch, sagt auch die nigerianische Historikerin Odele. Denn die Geschichte des eigenen Landes sei kritisch für die Selbstidentifikation. "Wir setzen uns nicht nur aus unserer Gegenwart, sondern auch aus unserer Vergangenheit zusammen. Wenn uns ein falsches Bild präsentiert wird, setzen sich die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit fort."

Während ihrer Schulzeit in den 1990er Jahren stand Geschichte nicht einmal auf dem Lehrplan. Heute gebe es eine ganze Generation von Nigerianern, die die Geschichte des Kolonialismus nicht kennen.

Die Menschen im Ungewissen lassen?

Dafür macht sie die nigerianische Regierung verantwortlich, die noch immer keine neuen Lehrpläne eingeführt habe. "Unsere Regierung will nicht, dass wir für den Fortschritt kämpfen. Es ist aus ihrer Sicht also das Beste für die Nation, wenn die Menschen die Vergangenheit nicht kennen, wenn sie nicht wissen, dass es Unruhen und Proteste während des Kolonialismus gab, damit sie keine Forderungen an die Regierung stellen können", so Odele.

Drei Raubkunst-Bronzen aus dem Land Benin
Viele historische Kunstschätze aus Afrika liegen in europäischen MuseenBild: picture-alliance/dpa/D. Bockwoldt

Doch es gibt Ansätze, Afrikas Sichtweise in den Fokus der Geschichte zu rücken. Kenias Regierung verkündete 2019, Vorschläge der UN-Bildungsorganisation UNESCO übernehmen zu wollen, afrikanische Geschichte in die Lehrpläne zu übernehmen. Ziel des UNESCO-Programms ist es, "die Geschichte Afrikas zu rekonstruieren, sie von rassistischen Vorurteilen zu befreien, die sich aus Sklavenhandel und Kolonialisierung ergaben, und eine afrikanische Perspektive zu fördern". Seit 1964 haben mehr als 230 Historiker und andere Spezialisten daran gearbeitet.

Änderung in Sicht

In Südafrika forderte Bildungsministerin Angie Motshekga Ende 2019, den verpflichtenden Unterricht in südafrikanischer und afrikanischer Geschichte bis zur zwölften Klasse - drei Jahre länger als bisher. Sie sagte, dass auch ein neuer obligatorischer Geschichtslehrplan eingeführt würde.

Auch in Botsuana ändern sich die Dinge. "Lange Zeit hatten wir nur weiße Lehrer, und der Lehrer, der mir Geschichte beibrachte, war ebenfalls weiß", sagt die Schriftstellerin Siyanda Mohutsiwa. "Der Lehrer, der heute meinen Bruder unterrichtet, ist ein Botsuaner. Die Dinge ändern sich langsam - schon mit diesen Lehrern, die lokal ausgebildet wurden und von hier kommen."