1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kleine Insel, große Geschichten

17. Juni 2011

Kristof Magnusson ist halber Isländer und Übersetzer aus dem Isländischen. Und er ist selbst Schriftsteller. Wer könnte also besser Auskunft geben über die Spezialitäten der isländischen Literatur und Sprache?

https://p.dw.com/p/RTuJ
Lavafeld bei Landmannalaugar in Island (Foto: Isländischer Tourismusverband Visit Iceland)
Lavafeld bei LandmannalaugarBild: Visit Iceland

DW-WORLD.DE: Rund 320.000 Einwohner hat Island, etwa die Hälfte von Frankfurt am Main. Manche sagen, jeder Isländer sei entweder ein Schriftsteller oder ein Musiker. Stimmt das?

Kristof Magnusson: Also so ist es natürlich übertrieben. Aber es ist trotzdem eine gewisse Form von Wahrheit daran, wenn man es als Metapher nimmt. Und das ist gleichzeitig auch wieder eine ganz wichtige Sache für die Bedeutung der Literatur in Island. Einfach die Tatsache, eine gute Geschichte zu erzählen, das ist etwas, was die Isländer immer begeistert. Insofern, auch wenn man jetzt es nicht ganz so hundertprozentig auf jeden Isländer überträgt, kann man sagen: Eigentlich ist jeder Isländer ein Schriftsteller oder, würde ich sagen, entweder ein Schriftsteller oder ein Leser.

Auf jeden Fall ein guter Geschichtenerzähler. Und was man jetzt auch immer wieder hört, was auch im Mittelpunkt des Gastlandauftritts stehen wird, sind die großen Sagas, die großen isländischen Sagas. Ein großes Übersetzungsprojekt ins Deutsche ist gerade im Gange. Worum geht es in diesen Sagas? Die stammen ja noch aus dem Mittelalter …

Kristof Magnusson (Foto: Thomas Dashuber)
Kristof MagnussonBild: Thomas Dashuber

Die Sagas sind eigentlich der Anfangspunkt dieser isländischen Erzählbegeisterung. Island wurde besiedelt so ungefähr 870 bis 900. Und die Leute kamen aus einem relativ homogenen Sprachraum. Also größtenteils aus Norwegen und Dänemark, wo pannordisch gesprochen wurde, was damals alle untereinander verstanden haben. Es gab aber keine richtige Schriftsprache.

Die Schriftsprache hat sich dann in der Tat erst im Mittelalter in Island entwickelt, als die Leute angefangen haben, die Geschichten aufzuschreiben. Und da ist auch wirklich dieses Geschichtenerzählen wieder ein ganz wichtiges Mittel gewesen, weil Island als so eine Art Australien galt. Also so eine Art Sträflingsinsel, wo die ganzen Mörder und Outlaws und Diebe hin verfrachtet wurden. Dadurch hatten die Isländer nicht unbedingt den besten Ruf.

Sie haben auch deshalb angefangen, die Geschichte ihrer Besiedlung aufzuschreiben, um diese Geschichte eben anders zu erzählen, um zu sagen, das sind alles hochwohlgeborene Söhne gewesen, aus den besten Familien. Und wirklich nur die allerbesten Leute sind nach Island gekommen. Das heißt, da ist sozusagen in einer Art mittelalterlicher PR-Aktion die Literatur benutzt worden, um den Leuten auch einfach einen besseren Ruf zu geben. Darauf basiert eben diese Leidenschaft der Isländer für das Geschichtenerzählen, die sich bis heute hält.

Was genau wird denn erzählt? Geht es um Feen und Trolle? Geht es um Kriege, Mord und Totschlag?

Die Sagas - und deswegen haben wir uns jetzt auch so ausführlich mit den Sagas beschäftigt in einer sehr großen Übersetzergruppe - die Sagas erzählen aus heutiger Perspektive eigentlich wirklich frappierend realistisch, dafür dass sie aus dem Mittelalter kommen. Und auch sehr einfühlsam, mit einer großen Psychologie. Die Hauptcharaktere dieser Sagas sind alles ganz, ganz vielschichtige Menschen: Große Helden, die auf der anderen Seite wahnsinnige Angst vor der Dunkelheit haben. Große Helden, die dauernd ihre Mutter vermissen und dann aber doch im Krieg immer wirklich ganz erfolgreich sind. Also die großen Sagas sind eigentlich Romane, die eben die Geschichten erzählen von den wichtigsten Helden, die damals in dieser isländischen Besiedlungszeit eine Rolle gespielt haben.

Aurora Borealis (Foto: Isländischer Tourismusverband Visit Iceland)
Ein Licht in der Dunkelheit: Aurora Borealis in IslandBild: Visit Iceland

Und jeder Isländer kann die heute noch lesen. Das fand ich faszinierend. Wir können unsere mittelalterlichen Sagen ja nicht mehr lesen. Das ist eine andere Sprache.

Ja, da ist natürlich auch wieder sozusagen das, was Jahrhunderte lang ein Nachteil von Island war, nämlich diese Isolation und auch die Armut, aus heutiger Sicht betrachtet ein Vorteil, weil sich die Sprache einfach nicht so sehr weiterentwickelt hat. Man könnte es sich vielleicht so vorstellen, als würde man auf Helgoland heute noch Mittelhochdeutsch sprechen.

Die Sagas sind Geschichte, sind Literaturgeschichte, aber sie spielen auch heute noch eine Rolle. Stimmt das? Ich habe gelesen, dass sie immer noch Einfluss auf die Gegenwartautoren haben. Und der Einfluss ist auch ein internationaler.

Der Einfluss ist natürlich auch ein internationaler. Die berühmteste Geschichte ist dabei die von dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges, der ein Zitat eines isländischen Saga-Autors auf seinem Grabstein hat. Den hat er immer als seine Haupteinflussquelle genannt. Das ist natürlich schon deshalb interessant, weil er als ein Vertreter des magischen Realismus damit eigentlich einen komplett realistisch erzählenden Autoren als großes Vorbild genannt hat. Und das hat sich in Argentinien verbreitet und auch auf jüngere Autoren Einfluss gehabt. Das heißt, da ist sozusagen einmal quer über die ganze Welt hinweg aus diesen alten Sagas, die 800 Jahre alt sind, wieder ein Einfluss auf die zeitgenössische Literatur entstanden. Und es gibt einige von solchen Beispielen. Aber das ist vielleicht das frappierendste, zumindest für mich.

Was kann man denn über die isländische Gegenwartsliteratur sagen? Oder sagen wir auch ruhig die jüngere Gegenwartsliteratur? Ich habe mit Island immer wenig Licht, viel Natur, viel Meer, Inselsituation assoziiert. Schlägt sich das auch in der Gegenwartsliteratur nieder? Oder was sind so die Tendenzen?

Buchcover Kristof Magnusson: Gebrauchsanweisung für Island (Piper)

Die eine Konstante ist, dass das Geschichtenerzählen wichtig ist, das Fabulieren. Es kommt nicht in erster Linie auf die Message an oder auf dieses "was will der Dichter uns damit sagen". Es kommt darauf an, dass die Geschichte funktioniert. Und das ist etwas, was fast alle isländischen Autoren auszeichnet. Bei den Themen hingegen gibt es eigentliche dieselbe Vielfalt wie in anderen modernen Ländern.

Es gibt Autoren, die erzählen Geschichten, die sich nur in Reykjavik als der modernen Großstadt abspielen. Die spielen dann in Cafés, in Clubs, in Taxis und so weiter. Und dann gibt aber auch die Autoren, die sich bewusst davon abwenden und sozusagen das ländliche Island in den Mittelpunkt stellen, wo dann wirklich Dinge in der Natur spielen, wo Leute tagelang durch irgendwelche Berglandschaften ziehen im Winter. Und wenn es ihnen kalt wird, lassen sie sich halt mal so ein bisschen einschneien und wärmen sich dann auf wundersame Weise wieder auf. Oder sie leben an irgendwelchen einsamen Fjorden. Also es gibt da eine sehr, sehr große Bandbreite, die aber eben wirklich diese eine Gemeinsamkeit hat: Es kommt immer darauf an, dass die Geschichte spannend ist und die Leser packt.


Das Gespräch führte Gabriela Schaaf
Redaktion: Claudia Unseld

Kristof Magnusson: Gebrauchsanweisung für Island. Piper Verlag. 208 Seiten. 14,95 Euro.