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Kathleen Stock und die Geschlechter-Debatte

Christine Lehnen
3. November 2021

Eine Professorin wirft wegen Transphobie-Vorwürfen hin, die britische Regierung bangt um die Meinungsfreiheit. Was steckt hinter dem Streit um Kathleen Stock?

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Teilnehmer der London Gay Pride Parade
Nicht nur bei der Gay Pride Parade meldet sich die LGBTQ-Community lautstark zu WortBild: Getty Images/AFP/T. Akmen

Monatelang war sie in den sozialen Netzwerken als transphob gebrandmarkt worden, lautstark forderten Studierende ihre Entlassung. Irgendwann hielt Kathleen Stock den Druck nicht mehr aus. Die Philosophieprofessorin an der University of Sussex kapitulierte vor den öffentlichen Anfeindungen und trat von ihrem Posten zurück.

Nicht ohne sich zuvor bei der Universität zu bedanken, die ihr bis zuletzt den Rücken gestärkt hatte. Die Intoleranz gegenüber Stock stehe "in direktem Gegensatz zu den grundlegendsten Prinzipien der Wissenschaft", hieß es in einem Statement ihres Arbeitgebers. 

Angefeindet von der Transgender-Community

Was war geschehen? Kathleen Stock wurde zur Zielscheibe der Kritik, weil sie die Ansicht vertritt, das biologische Geschlecht einer Person könne nicht geändert werden und ihre Thesen auch veröffentlichte. Die Transgender-Community ist da anderer Meinung. Eine Gruppe anonymer Onlinenutzer, die sich selbst als "Trans-Aktivisten" bezeichnen, forderte aggressiv ihre Entlassung. In den sozialen Medien wurde Stock massiv beschimpft und bedroht.

Der Fall schlägt nicht nur in britischen Medien hohe Wellen, sondern auch im Ausland. So sieht zum Beispiel die "Neue Zürcher Zeitung" aus der Schweiz im "Fall Stock" eine immer weitere um sich greifende "cancel culture" - Menschen mit ungeliebten Meinungen würde von linken politischen Kräften inzwischen einfach der Mund verboten.

Von Trans-Aktivisten und gender-kritischen Feministinnen

In dieser speziellen Diskussion in Großbritannien stehen auf der einen Seite die "trans activists" (deutsch: "Trans-Aktivisten"), auf der anderen die "gender-critical feminists" wie Kathleen Stock (deutsch: "gender-kritische Feministinnen").

Die "trans activists" werfen den gender-kritischen Feministinnen vor, transfeindlich zu sein, also Transmenschen durch ihre öffentlichen Äußerungen über biologisches und gesellschaftliches Geschlecht lebensbedrohlich zu gefährden. Die gender-kritischen Feministinnen hingegen sehen in der Geschlechtertheorie, die auf Simone de Beauvoir, Michel Foucault und Judith Butler zurückgeht, eine ebenso gefährliche Bedrohung für das Wohlergehen und die Emanzipation von Frauen. Sie betonen die Bedeutung des biologischen Geschlechts gegenüber dem sozialen Geschlecht.

Es war Simone de Beauvoir, die in "Das andere Geschlecht", einem Klassiker der westlichen Feminismus-Literatur, darauf hinwies, dass Frauen nicht nur biologisch Frauen sind, sondern auch sozial zu solchen gemacht werden: zum Beispiel durch die Erwartungen, die an sie herangetragen werden (Mutter zu sein, stets zu lächeln, bestimmte Kleidung zu tragen) sowie durch Gesetze, die ihre reproduktiven Fähigkeiten regulieren (Abtreibungsgesetzgebung, fehlender gesetzlicher Schutz vor Vergewaltigung in der Ehe). 

"Eine intellektuelle, keine politische Frage"

Der "Fall Stock" sei symptomatisch dafür, wie komplexe akademische Themen in der öffentlichen Debatte inzwischen politisiert werden, meint Laura Doan, Professorin für Kulturgeschichte an der University of Manchester. "Die Geschlechterkonzeption einer Gesellschaft ist eigentlich keine politische, sondern eine intellektuelle Frage", so Doan im Gespräch mit der DW.

Sie kritisiert einerseits die "Trans-Aktivisten" dafür, dass sie Menschen mit gegenteiligen Meinungen zum Schweigen bringen wollen - auch im Falle von Kathleen Stock, die sie fälschlicherweise als "transphob" gebrandmarkt hätten. Genauso beobachtet Doan aber auch, dass insbesondere Zeitungen aus dem konservativen politischen Spektrum Ereignisse wie den Rücktritt Kathleen Stocks liebend gern aufgreifen und anheizen würden: "Das rechte politische Spektrum freut sich sehr über solche Fälle." Dabei positionieren sie sich gegen Transmenschen, beschwören eine kulturelle Bedrohung durch linke Kräfte und stilisieren sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit.  

Kompromiss oder Konsens scheinen unmöglich, die andere Seite wird als Feind wahrgenommen, konstatiert Doan. Die Bedrohung werde dabei als lebensgefährlich eingestuft, und zwar auf beiden Seiten: Kathleen Stock hatte sich laut der Presseagentur AFP auf dem Universitätscampus nicht mehr sicher gefühlt; gleichzeitig beschreibt eine anonyme Gruppe, die sich im Internet für ihre Entlassung einsetzte, sich selbst auf Instagram als "eine anonyme, niemandem zugehörige Gruppe von queeren, Trans- und nicht-binären Studierenden, die es nicht zulassen werden, dass ihre Communities verleumdet und geschädigt werden".

Aggression gegenüber Wissenschaftlern ist groß

Das zeigt, wie angeheizt diese eigentlich vorwiegend akademische Debatte ist. Laura Doan macht insbesondere die sozialen Medien für diese veränderte Diskussionskultur verantwortlich: "In den sozialen Netzwerken tritt man anonym auf, deshalb auch wütender und dadurch destruktiver. Kathleen Stock hätte nicht so verfolgt werden können, wenn es die sozialen Netzwerke nicht gegeben hätte."

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Dasselbe sei einem ihrer Kollegen in Bristol passiert, einem französisch-kamerunischen Wissenschaftler, der sich für die Black-Lives-Matter-Bewegung stark gemacht habe. Er sei jedoch von rechts verfolgt worden. "Die Aggression gegenüber Forschenden ist gerade unheimlich groß", so Doan. 

Die Lockdowns während der Corona-Pandemie hätten ebenfalls dazu beigetragen, ist sich Doan sicher. Das Phänomen habe es aber auch schon vorher gegeben, betont die Wissenschaftlerin, und die Feindseligkeit käme nicht nur aus den sozialen Medien, sondern auch von Seiten der Regierung.

Zum Beispiel beim Brexit-Referendum: Laut des renommierten Literaturwissenschaftlers Robert Eaglestone erhielten Universitäten nach der Volksabstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union ein Schreiben der Regierung, in dem darum gebeten wurde, diejenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufzuzählen, die zu europäischen Themen forschen würden. Wie bedrohlich das wirkte, berichtet er im Vorwort des wissenschaftlichen Sammelbands "Brexit and Literature: Critical and Cultural Responses".

Demonstranten halten Schilder hoch, auf denen ein zweites Referendum gefordert wird
Das Brexit-Referendum spaltet die britische Gesellschaft Bild: Getty Images/AFP/N. Halle'n

Auch im "Fall Stock" äußerte sich die britische Regierung: Michelle Donellan, Parlamentarierin der konservativen Tory-Partei und Ministerin für Hochschulwesen, schrieb auf Twitter, dies sei ein "trauriger Tag für die Meinungsfreiheit" und bezeichnete die University of Sussex als "toxisch".

Kein akademisches Mitglied solle um die persönliche Sicherheit besorgt sein müssen. Die  Regierung hat daher jetzt ein Gesetz ins Parlament eingebracht, das britische Universitäten verpflichten würde, "die Meinungsfreiheit zu schützen." 

Laura Doan spricht sich dafür aus, die Debatte zu entpolitisieren und die Schärfe herauszunehmen. Für ihre Studierenden sei die Möglichkeit, sich verschiedenen Geschlechtern zuzuordnen, längst ein sehr wichtiger Teil des Alltags und ihrer Identität - ganz ohne akademische Grundsatzdiskussion.

Auch manche Transpersonen in Großbritannien wünschen sich eine andere Debatte, berichtet Doan - eine, die sich wieder auf konkrete Ziele konzentriert. Als Beispiel nennt sie die Einrichtung von öffentlichen Toiletten, die für alle Geschlechter zugänglich sind - zusätzlich zu den traditionellen Toiletten, die nach Frauen und Männern aufgeteilt sind. Ein klassischer Kompromiss.

"Es gab schon immer diese fundamentalen Debatten im Feminismus", erklärt Doan. "Zum Beispiel die Frage, ob man für oder gegen Pornos ist. Am Ende ist das hier nur eine weitere Debatte, die den Feminismus spaltet." Deshalb ruft sie dazu auf: "Lasst uns Frieden schließen."