Karneval braucht keine Religion
Eigentlich ist Karneval ein christlicher Brauch: Vor der Fastenzeit wird noch mal ausgelassen gefeiert. Doch auch Jecken anderer Religionen mischen sich inzwischen unters Narrenvolk.
Schon die Römer und Germanen feierten ausgelassen den Beginn des Frühlings. Sie verkleideten sich und trugen Masken, um sich von den Schrecken des Winters zu verabschieden. Die Kirche versuchte, das heidnische tolle Treiben das tolle Treiben hier: verrücktes Verhalten von Menschen an Karneval zu zähmen und auf Karneval beziehungsweise Fastnacht Fastnacht (f., nur Singular) die v. a. in Bayern verwendete Bezeichnung für die närrischen Tage , also die Tage vor der Fastenzeit, zu begrenzen. Und während die Katholiken schon immer wussten: „Wir sind alle kleine Sünder, der Herrgott wird’s uns bestimmt verzeihen“, haben die Protestanten lange mit dem Fasching Fasching (m., nur Singular) die in manchen Regionen Deutschlands verwendete Bezeichnung für die närrischen Tage gefremdelt fremdeln gegenüber fremden Menschen scheu sein . Doch mittlerweile begeistern sich nicht nur Christen für Helau Helau! ein Narrenruf (v. a. in Düsseldorf): Hoch!; Hurra! und Alaaf Alaaf ein Narrenruf (v. a. in Köln): Hoch!; Hurra! , sondern auch Juden und Muslime – auch die islamische Religionspädagogin Tuba Isik:
„Zunächst einmal ist zu sagen: Ich bin ein waschechtes Meenzerweib und Fasnacht gehört dazu. Wir waren immer verkleidet, und das gehörte eben zur lokalen Kultur dazu. Uns hat das immer sehr viel Spaß gemacht – und ich mag Fasnacht.“
Schon als Kind war Tuba Isik mit der ganzen Familie jedes Jahr beim Mainzer Rosenmontagszug. Sie ist eine Frau, die Mainz von ganzem Herzen mag, ist ein waschechtes Meenzerweib. Die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt gehört neben Köln und Düsseldorf zu den Karnevalshochburgen in Deutschland. Vor allem während der Karnevalsumzüge werden politische Themen aufs Korn genommen jemanden/etwas aufs Korn nehmen umgangssprachlich für: sich über jemanden/etwas lustig machen; verspotten . Wie aber würde eine Muslimin wie Tuba Isik reagieren, wenn man sich in der sogenannten „Fünften Jahreszeit Fünfte Jahreszeit (f.) hier redensartlich für: der mehrere Tage bis Wochen andauernde Zeitraum vor Karneval/Fastnacht/Fasching “ über religiöse Themen lustig machen würde? Grundsätzlich hat sie nichts dagegen, meint aber, dass es eine Grenze gibt:
„‚Deus semper maior‘ – ‚Gott ist immer größer‘ – wie man sich ihn denkt. Das, was man dann als Gott da abbildet … oder Gott durch den Kakao ziehen mag, wenn ich das eben lustig finde, dann lache ich darüber. Eigentlich geht es ja auch in der Fasnacht darum, alles, was heilig und wichtig ist, durch den Kakao zu ziehen. Aber beim Propheten Mohammed ist eigentlich sozusagen eine Grenze erreicht für sehr viele Muslime, weil das ein undiskutabler Punkt ist, an dem Muslime sehr empfindlich sind.“
In der Fastnacht ist nach Ansicht von Tuba Isik fast alles erlaubt, auch sich über Gott lustig zu machen, ihn durch den Kakao zu ziehen. Denn „Gott ist größer“, steht über allem, und wird es einem schon verzeihen. Anders sieht das ihrer Ansicht nach aus, wenn man sich über den Propheten Mohammed, beispielsweise auf einem Motivwagen Motivwagen, - (m.) ein Wagen bei einem Festzug, auf dem eine Szene dargestellt wird, die Personen, politische Ereignisse und Ähnliches verspottet , lustig machen würde. Für sehr viele Moslems sei das nicht hinnehmbar, indiskutabel. Doch Karneval ist eigentlich sowieso ein mit dem Christentum in Verbindung stehender Brauch, wie der katholische Publizist Manfred Becker-Huberti erklärt:
„Das hat den einen Grund, dass die Fastenzeit die Fastnacht macht, nicht die Fastnacht die Fastenzeit. Das heißt, weil gefastet wird, darf man auch Karneval feiern. Das ist der katholische Hintergrund.“
Der Begriff „Karneval“ kommt vom lateinischen Spruch „Carne Vale!“, zu Deutsch: „Fleisch, lebe wohl!“. Hintergrund ist, dass Lebensmittel in früheren Zeiten nicht gekühlt werden konnten und so schnell verdarben. Vor der 40-tägigen fleischlosen Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostern mussten daher alle noch vorhandenen Fleischbestände verbraucht werden. Welche Gelegenheit bot sich da besser an, als das bei ausgelassenem Treiben zu tun, bevor man Verzicht üben musste. Man schlug über die Stränge, war übermütig. Doch mittlerweile ist die religiöse Ebene des Faschings in den Hintergrund getreten, so Becker-Huberti:
„Karneval ist ein Kulturgut geworden, an dem viele teilnehmen, und da muss man nicht vorher die Taufe nachweisen.“
Karneval gehört zum regionalen Brauchtum, ist nicht mehr auf die christliche Religion beschränkt, oder wie es Manfred Becker-Huberti formuliert: Man muss die Taufe nicht nachweisen, also die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft. Dass Feiern und Fasten zusammengehören, kennt Tuba Isik aus ihrer eigenen Religion. Denn im Ramadan herrscht abends beim Fastenbrechen Fastenbrechen (n., nur Singular) hier: das Fest zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan ebenfalls eine ausgelassene Stimmung:
„Das passiert natürlich sehr oft - insbesondere, weil man ja Fastenbrechen immer eigentlich in Gemeinschaft vollziehen soll. Da werden dann natürlich ganz viele Menschen eingeladen, und man möchte auch natürlich schön lecker miteinander essen. Und da wird manchmal natürlich über die Stränge geschlagen.“
Viele Musliminnen und Muslime sind mittlerweile allerdings auch im Karneval angekommen – vor allem in den Karnevalshochburgen. In Düsseldorf fuhr 2019 an Rosenmontag erstmals ein Wagen mit dem bezeichnenden Namen „Toleranz wagen!“ im Karnevalszug mit. Der Wagen und die Botschaft, so sagt Dalinc Dereköy vom Kreis Düsseldorfer Muslime, wurden durchaus positiv aufgenommen:
„Überwiegend sehen natürlich viele das positive Signal, dass man da zusammensteht – auch gegen Islamfeindlichkeit und Antisemitismus auch ’n Zeichen setzt, dass Juden und Muslime hier in Deutschland [miteinander] können, also zumindest in Düsseldorf, und dass man sich wechselseitig respektiert und auch wechselseitig unterstützt.“
Die Idee zu dem multireligiösen Karnevalswagen stammte von Michael Szentei-Heise von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Er wollte nach eigenen Angaben ein Zeichen setzen, dass Christen, Juden und Muslime miteinander können, sich verstehen. Für ihn war dieses Zeichen sehr wichtig:
„Wir sehen im Augenblick einen stark anwachsenden Antisemitismus in Deutschland, in Europa. Wir sehen eine Islamophobie auf der anderen Seite ebenfalls. Im Prinzip sind alle vier, also katholische Kirche, evangelische Kirche, die Muslime und die Juden, wir sind uns einig, dass wir mit diesem Wagen eigentlich politisch ein Statement abgeben wollen, dass diese ‚Anti-Ismen‘ eigentlich etwas sehr Negatives sind und dass die Gesellschaft eigentlich nicht dafür stehen soll. Das [ist] das politische Signal dieses Wagens.“
Auf dem Wagen zu sehen waren lachende Geistliche der vier Religionsgemeinschaften als Pappfiguren – alle mit einer roten Nase. Damit sollte, so Michael Szentei-Heise, ein politisches Statement abgegeben werden. Es sollte öffentlich Stellung bezogen werden, dass gegen eine Religion gerichtete Handlungen und Einstellungen, Anti-Ismen, nicht hingenommen werden dürfen – egal ob es sich um Antisemitismus, also gegen Juden gerichtete Anfeindungen handelt, oder um eine feindliche Einstellung gegenüber dem Islam und seinen Gläubigen, eine Islamophobie.
Im Karneval mit dabei sind auch die jüdischen Gemeinden in Düsseldorf und Köln. Im Jahr 2018 wurde der größte jüdische Sohn der Stadt Düsseldorf, Heinrich Heine, mit einem Karnevalswagen gefeiert, was – so Michael Szentei-Heise – bis auf eine Ausnahme gut ankam gut an|kommen hier: positiv beurteilt werden; positive Reaktionen auslösen :
„Es war einfach großartig, Unterstützung von allen Seiten über unseren Umgang mit dem Karnevalzug: Dass wir nicht immer nur ‚Düsseldorf Helau!‘ geschrien haben, sondern ‚Düsseldorf Schalom!‘ geschrien haben, da hat man dann ’n bisschen die Nase gerümpft.“
Dass der Narrenruf „Helau“ umgewandelt wurde in den Friedensgruß der Juden, Schalom, gefiel manchem nicht. Die Nase wurde gerümpft, ein Unwille zum Ausdruck gebracht. Auch im benachbarten Köln beteiligte sich die dortige jüdische Gemeinde. Am Karnevalssonntag 2019 lud der jüdische Karnevalsverein „Kölsche kölsch aus Köln stammend Kippa Kippa, -s (f.) die Kopfbedeckung jüdischer Männer Köpp Köpp, -e (m.) Kölsch für: Kopf “ zu seiner ersten Sitzung in die Räume der Synagogengemeinde ein. Michael Szentei-Heise erinnert daran, dass es in den 1920er-Jahren in der Stadt schon mal einen jüdischen Karnevalsverein gab, wenn auch nur für kurze Zeit:
„1922 hat sich in Köln eine jüdische Karnevalsgesellschaft gegründet. Bereits 1923 hat das Kölner Karnevals-Komitee die Teilnahme von Juden am Kölner Karneval verboten – also zehn Jahre vor den Nazis. Und wenn man dann die Karnevalsumzüge während der Nazizeit sich anschaut, wie man dort mit der jüdischen Bevölkerung umgegangen ist: Es ist eine sehr diskriminierende, katastrophale Darstellung gewesen. Deswegen gab es natürlich nach dem Krieg nicht besonders große Bestrebungen jüdischerseits, am Karneval teilzunehmen.“
Schon während der Weimarer Republik Weimarer Republik (f., nur Singular) der deutsche Staat von 1919–1933 wurden keine Juden mehr in Karnevalsvereine aufgenommen, weil die Nationalsozialisten bereits deutlich präsent waren. Eine offene Diskriminierung und Verunglimpfung jemanden verunglimpfen jemanden beleidigen; schlechte Dinge über jemanden erzählen, um jemandem zu schaden fand dann unter der Naziherrschaft ab 1933 statt. So fuhr beispielsweise im Rosenmontagszug 1934 ein Motivwagen mit: „Die Letzten ziehen ab“. Mit dem Spruch wurden die Juden der Stadt verspottet, die gezwungen worden waren, zu emigrieren.
Bleibt zuletzt noch die Frage nach dem Alkohol, der in der Regel an Karneval reichlich fließt. Juden ist es erlaubt, Alkohol zu trinken, Muslimen aber eigentlich nicht. Die islamische Religionspädagogin Tuba Isik sieht etwas nicht so eng sehen umgangssprachlich für: tolerant sein; großzügig sein das nicht so eng etwas nicht so eng sehen umgangssprachlich für: tolerant sein; großzügig sein . Denn dazu gezwungen, genötigt, Alkohol zu konsumieren, wird ja keiner, meint sie:
„Es gibt Muslime, die da sehr sensibel sind, und die grundsätzlich Orte vermeiden, an denen Alkohol getrunken wird. Es gibt aber auch Muslime, die andere religiöse Sensibilitäten und Empfindlichkeiten haben, die damit ganz anders umgehen und sagen, solange ich nicht genötigt werde, hier Alkohol trinken zu müssen, gehe ich auf so eine Veranstaltung. Es geht mir um die Fastnacht.“
Karneval braucht keine Religion
das tolle Treiben — hier: verrücktes Verhalten von Menschen an Karneval
Fastnacht (f., nur Singular) — die v. a. in Bayern verwendete Bezeichnung für die närrischen Tage
Fasching (m., nur Singular) — die in manchen Regionen Deutschlands verwendete Bezeichnung für die närrischen Tage
fremdeln — gegenüber fremden Menschen scheu sein
Helau! — ein Narrenruf (v. a. in Düsseldorf): Hoch!; Hurra!
Alaaf — ein Narrenruf (v. a. in Köln): Hoch!; Hurra!
jemanden/etwas aufs Korn nehmen — umgangssprachlich für: sich über jemanden/etwas lustig machen; verspotten
Fünfte Jahreszeit (f.) — hier redensartlich für: der mehrere Tage bis Wochen andauernde Zeitraum vor Karneval/Fastnacht/Fasching
Motivwagen, - (m.) — ein Wagen bei einem Festzug, auf dem eine Szene dargestellt wird, die Personen, politische Ereignisse und Ähnliches verspottet
Fastenbrechen (n., nur Singular) — hier: das Fest zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan
gut an|kommen — hier: positiv beurteilt werden; positive Reaktionen auslösen
kölsch — aus Köln stammend
Kippa, -s (f.) — die Kopfbedeckung jüdischer Männer
Köpp, -e (m.) — Kölsch für: Kopf
Weimarer Republik (f., nur Singular) — der deutsche Staat von 1919–1933
jemanden verunglimpfen — jemanden beleidigen; schlechte Dinge über jemanden erzählen, um jemandem zu schaden
etwas nicht so eng sehen — umgangssprachlich für: tolerant sein; großzügig sein