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Politik

Prozess gegen Lukaschenko?

Mikhail Bushuev
3. Juni 2021

Europäischen Gerichten liegen mehrere Anzeigen gegen die belarussische Führung vor. Doch können diese wirklich zu einer Anklage führen? Fragen dazu an den deutschen Juristen Florian Jeßberger.

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Justitia als Symbol der Rechtsprechung
Bild: picture-alliance/dpa/P. Endig

Gleich mehrere europäische Gerichte befassen sich derzeit mit der Prüfung von Strafanzeigen gegen Alexander Lukaschenko, der seit mehr als 26 Jahren über Belarus herrscht. Im Namen von vier Nichtregierungsorganisationen wurde Mitte Mai eine Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag eingereicht. Wenige Tage zuvor wurde bei der Bundesanwaltschaft der Bundesrepublik Deutschland im Namen von zehn Personen Anzeige gegen Lukaschenko wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstattet. Schließlich wurde der belarussische Machthaber Ende Mai von der internationalen Menschenrechtsorganisation "Reporter ohne Grenzen" wegen der Festnahme des bekannten belarussischen Bloggers Roman Protasewitsch nach einer erzwungenen Landung einer Passagiermaschine in Minsk bei der litauischen Generalstaatsanwaltschaft angezeigt. Die DW sprach mit Florian Jeßberger von der Berliner Humboldt-Universität darüber, wie groß jeweils die Chancen für die Einleitung eines Strafverfahrens tatsächlich sind.

Deutsche Welle: Herr Jeßberger, wie ungewöhnlich ist es, dass Privatpersonen und NGOs eine Strafanzeige beim IStGH gegen ein Land stellen, das selbst nicht Vertragsstaat dieses Gerichts ist?

Florian Jeßberger: Es ist erstmal nicht ungewöhnlich, dass Strafanzeigen von Privatpersonen oder Nichtregierungsorganisationen eingereicht werden, und es gibt dafür viele Beispiele beim IStGH. Besonders aber ist, dass sich die Strafanzeige gegen Ereignisse richtet, die überwiegend in einem Nicht-Vertragsstaat begangen worden sind, also in Belarus, einem Staat, der nicht dem Römischen Statut (des IStGH, Anm. d. Red.) beigetreten ist. Die Zuständigkeit des IStGH erfasst grundsätzlich nur Taten, die im Gebiet eines Vertragsstaates oder durch einen Angehörigen eines Vertragsstaates begangen worden sind.

Es gibt noch den Sonderfall, in dem der UN-Sicherheitsrat eine Situation an den IStGH überweist. Aber in unserem Fall ist das nicht zu erwarten, weil Russland als Vetomacht im Sicherheitsrat - davon gehe ich mal aus - eine solche Überweisung nicht zulassen würde.

Aktivisten, die diese Anzeige erstattet haben, verweisen auf einen Präzedenzfall aus dem Jahr 2019. Damals hatte sich der IStGH bereiterklärt, Verbrechen gegen Rohingya-Muslime aus Myanmar zu verfolgen, die ins benachbarte Bangladesch geflohen waren. Myanmar fällt wie Belarus nicht unter die Zuständigkeit des IStGH, Bangladesch hingegen hat das Römische Statut ratifiziert. Inwiefern ist dieser Präzedenzfall hier anwendbar?

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Florian Jeßberger von der Humboldt-Universität zu BerlinBild: Sarah Eick/Florian Jeßberger

In der Tat hat 2019 eine Vorverfahrenskammer des IStGH entschieden, dass der Gerichtshof zuständig ist für Menschlichkeitsverbrechen der Vertreibung und der Verfolgung, die dadurch begangen worden sind, dass Angehörige der Minderheit der Rohingya zur Flucht aus Myanmar, keinem Vertragsstaat des IStGH, nach Bangladesch, einem Vertragsstaat, veranlasst worden sind. Der Tatort, und auf den kommt es an, war in diesem Fall auch Bangladesch, nämlich als Zielstaat dieser Aktion. Auf diese Rechtsprechung berufen sich die Anzeigenerstatter auch hier. Sie argumentieren, dass Angehörige des Staates Belarus vertrieben und gezwungen worden sind, in die umliegenden Staaten zu gehen, insbesondere nach Polen und in die baltischen Länder, die Vertragsstaaten des IStGH sind. Da wird eine klare Parallele gezogen; inwieweit die trägt, ist eine Frage, die noch zu prüfen sein wird.

Wie stehen die Chancen für ein Verfahren in diesem Fall?

Vor allem wird es auf die Frage ankommen, ob der IStGH zuständig ist. Wenn man bedenkt, dass bis zu einer Million Personen von Myanmar nach Bangladesch vertrieben wurden, stellt sich erstens die Frage, inwieweit sich im Blick auf die Situation in Belarus Vergleichbares belegen lässt. Das zweite ist die Frage, inwieweit der Nachweis gelingt, dass der oder die Täter dieses Menschlichkeitsverbrechen der Vertreibung vorsätzlich herbeiführen. Es gibt offenbar öffentliche Äußerungen von Lukaschenko und anderen, die in diese Richtung deuten. Aber es wird genau zu prüfen sein, ob diese Voraussetzungen auch erfüllt sind.

Kann das Haager Gericht auch die neuesten Entwicklungen rund um die durch die belarussische Armee erzwungene Landung einer Ryanair-Passagiermaschine in Minsk bei seiner Entscheidung, ob es zuständig ist oder nicht, einfließen lassen?

Grundsätzlich kann sie, selbst wenn das in dieser Strafanzeige noch nicht vorgetragen ist, diese neuesten Entwicklungen berücksichtigen. Das Besondere gerade im Blick auf die Gerichtsbarkeit an dieser "Flugzeugentführung" ist, dass sich vielleicht auch darüber ein Tatort begründen lässt. Das Flugzeug ist in Irland registriert, in einem Vertragsstaat des IStGH. Seine Gerichtsbarkeit bezieht sich, wie gesagt, auf Taten, die im Gebiet eines Vertragsstaates begangen wurden, was Straftaten an Bord eines in diesem Staat registrierten Flugzeuges einschließt.

Welche Chancen hat ein Verfahren in Deutschland gegen das Lukaschenko-Regime? Die Bundesanwaltschaft hat bestätigt, dass sie nach einer Anzeige einen Beobachtungsvorgang angelegt hat.

Das Problem mit der Gerichtsbarkeit, das wir in Den Haag haben, stellt sich in Deutschland nicht, weil die Zuständigkeit der deutschen Strafjustiz für Verbrechen gegen die Menschlichkeit ohne weiteres begründet ist, auch für Taten, die in Belarus begangen wurden. Ein solches Verfahren wäre auch nicht notwendigerweise beschränkt auf ein Vertreibungs- oder Verfolgungsverbrechen, sondern könnte auch Menschlichkeitsverbrechen der Folter oder der unrechtmäßigen Freiheitsberaubung einbeziehen.

Selbst wenn in Deutschland ein Verfahren eingeleitet würde: Könnte Lukaschenko überhaupt belangt werden?

Die Schwierigkeit, die bei einem Verfahren in Deutschland besteht, ist zunächst einmal die, überhaupt an die Tatverdächtigen heranzukommen. Solange Alexander Lukaschenko Staatsoberhaupt von Belarus ist, genießt er tatsächlich vor deutschen Gerichten Immunität, selbst dann, wenn wie hier schwerste Verbrechen gegen das Völkerrecht in Rede stehen. Solange Lukaschenko eben Staatsoberhaupt ist, ist ein Verfahren gegen ihn als Person in Deutschland ausgeschlossen. Das kann dann anders sein, wenn er dieses Amt nicht mehr innehat. Das kann im Blick auf andere Funktionsträger in Belarus anders sein, die für diese Verbrechen verantwortlich sind, die dort mutmaßlich begangen wurden und noch begangen werden. Hochrangige Polizei- oder Militärangehörige genießen vor deutschen Gerichten keine Immunität.

Belarus Minsk | Rede Alexander Lukashenko im parlament
Machthaber Alexander Lukaschenko im Parlament von BelarusBild: Maxim Guchek/BelTA/REUTERS

Nochmal zur erzwungenen Landung des Ryanair-Flugzeugs. Was ist das aus Ihrer Sicht für ein Vorgang?

Ich gehe mal davon aus, dass mit einer vorgetäuschten Bombendrohung dieses Flugzeug in Minsk zur Landung gebracht wurde. Wenn ich das zugrunde lege, ist die juristische Bewertung nicht ganz einfach. Man könnte von einem Angriff auf den Luftverkehr ausgehen, eine Figur, die im internationalen Recht durch verschiedene Übereinkommen geregelt ist, an die auch Belarus gebunden ist. Sie zielen vor allem auf terroristische Flugzeugentführungen. Es bedarf genauerer Prüfung, ob diese Voraussetzungen in dem konkreten Fall erfüllt sind. 

"Reporter ohne Grenzen" hat Strafanzeige gegen Lukaschenko in Litauen erstattet. Könnte das auch noch in Deutschland passieren?

Das ist ohne weiteres möglich. Man kann überall Strafanzeigen erstatten und dann sind die jeweils zuständigen Behörden aufgerufen, sich im Lichte ihres nationalen Prozessrechts mit dieser Strafanzeige auseinanderzusetzen. In Litauen gibt es noch die Besonderheit, dass möglicherweise in dem Flugzeug selbst auch litauische Staatsangehörige waren, was wiederum einen zusätzlichen Anknüpfungspunkt böte, um etwa in Litauen ein solches Strafverfahren durchzuführen.

Florian Jeßberger ist seit 2020 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. 

Das Gespräch führte Mikhail Bushuev.