Kalter Krieg in Ostasien nicht beendet
2. September 2020Mit einer Zeremonie auf dem US-Schlachtschiff "Missouri", bei der japanische Vertreter die Kapitulationsurkunde unterzeichneten, endete am 2. September 1945 der Zweite Weltkrieg. In den 75 Jahren danach hat sich die Nachkriegsordnung in Ostasien jedoch kaum verändert. Ganz im Gegensatz zu Europa: Dort versöhnten sich die Kriegsgegner Deutschland und Frankreich und gründeten die Europäische Union. Die Sowjetunion zerbrach, die deutsche Einheit kam, die Staaten in Osteuropa wurden demokratisch. Doch in Ostasien herrscht bis heute ein Kalter Krieg. "Territoriale und ideologische Streitigkeiten sind in dieser Region ein ungeklärter Nachlass des Weltkriegs geblieben", sagt der deutsche Historiker Torsten Weber.
Zwar gab es durchaus einige Bewegung. In China setzten sich 1949 die Kommunisten durch. In Japan endete 1952 mit dem Friedensvertrag von San Francisco die Besatzungszeit. Später überwanden Südkorea und Taiwan die Diktatur. Aber die beiden Systeme von damals stehen sich heute bis an die Zähne bewaffnet gegenüber und verstehen sich als scharfe Wettbewerber. "In China und Nordkorea haben wir Parteien- und Familiendynastien, in den anderen Ländern Demokratien", erläutert Weber.
Zwei um regionalen Einfluss ringende Großmächte – die USA und China -, geteilte Länder wie auf der koreanischen Halbinsel und die Existenz von Pufferstaaten wie Nordkorea seien ebenfalls typische Merkmale für einen Kalten Krieg. Dieser Status quo hätte sich 1989 überwinden lassen können, als der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer fielen. Wäre auch China dieser Reformbewegung gefolgt, dann hätten die koreanischen Teilstaaten und Japan darauf reagieren müssen. "Doch diese historische Chance wurde durch das Massaker am Tiananmen-Platz vergeben", kommentiert Weber, der am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio forscht.
Instrumentalisierte Geschichte
Im Unterschied zu Europa fehlt in Ostasien bis heute die Bereitschaft zu einer Aussöhnung, was sich vor allem in territorialen Auseinandersetzungen widerspiegelt. Vordergründig drehen sich die Streitigkeiten um unbewohnte Eilande vor Südkorea und im Ostchinesischen Meer, um die Nutzung von Meeresressourcen und um militärische Sicherheit. Aber auf Seiten von Japans einstigen Kriegsgegnern spielt das Gefühl von unbefriedigter Gerechtigkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle, weil Japan keinen territorialen Preis für seinen Angriffskrieg zahlen will. "Aus der Sicht von Peking, Seoul und Pjöngjang sind die koreanische Teilung sowie die Existenz von Taiwan die Folge von Japans Imperialismus", meint der kanadische Politologe Stephan Nagy von der International Christian University in Tokio.
Diese Gemengelage förderte den Nationalismus. Südkorea versuchte die Kolonialzeit von 1910 bis 1945 durch eine bewusste "Entjapanisierung" zu überwinden und sich vom Nachbarn abzugrenzen. Auch Chinas Verhältnis zu Japan wird vom Nationalismus bestimmt. Bei der Wiederaufnahme der Beziehungen 1972 sagte Mao Zedong noch, ohne die japanische Invasion hätten seine Kommunisten niemals die Macht übernehmen können. Damals propagierte man, Faschisten hätten das japanische Volk zu Untaten verleitet. Aber in den neunziger Jahren ersetzte China unter Jiang Zemin das Klassenkampfdenken durch Nationalismus und belebte das schon vergessene Feindbild Japan neu.
"Die Erzählungen von Unterdrückung und Opferwerdung sind wichtig für die Identitätsbildung und werden durch Erziehung und Populärkultur zementiert", sagte Daniel Sneider, Ostasien-Experte an der US-Universität Stanford, der Nachrichtenagentur AP. Das bedeutet: China, Südkorea und Nordkorea stellen Japan an den Pranger, um beim Volk als Nationalisten zu punkten. "Die Führer in Peking und Seoul halten die Erinnerung an die Geschichte nicht nur wach, um der Toten zu gedenken, sondern um daraus politische Vorteile zu ziehen", erklärt Ralph Cossa, Ex-Präsident der US-Denkfabrik Pacific Forum in Hawaii.
"Entleerte Entschuldigungen"
Zugleich trägt Japan bis heute durch sein Verhalten dazu bei, dass die Schuldzuweisung weiter funktioniert. So haben die meisten Regierungen in Tokio für den japanischen Angriffskrieg in China wenig Reue gezeigt und das Massaker von Nanjing 1937 sowie die Zwangsrekrutierung von Frauen für Armeebordelle heruntergespielt. Premierminister Junichiro Koizumi entschuldigte sich bei seinem China-Besuch 2001 erstmals ausdrücklich für die japanischen Taten.
Trotzdem ging er vorher und hinterher zum Yasukuni-Schrein in Tokio, der die im Tokioter Tribunal verurteilten Kriegsverbrecher als Patrioten ehrt. Der heutige Regierungschef Shinzo Abe erwähnt Japans imperialistische Geschichte gar nicht mehr. „In der Wissenschaft nennt man das die Entleerung einer Entschuldigung", sagt der Historiker Weber. Damit gibt Japan den Nachbarländern weiter Anlass für Abgrenzung und Kritik.
Ignorierte Gemeinsamkeiten
Die Betonung des Nationalen und der Unterschiede verhindert auch, dass sich die Länder in Ostasien auf ihre kulturellen Gemeinsamkeiten besinnen und dadurch Wege zu Annäherung und Aussöhnung finden. Viele Deutsche verstehen sich heute auch als Europäer und stellen sich auf die gleiche Stufe wie Franzosen oder Italiener. Die Verständigung in Europa funktioniert auf der Basis des gemeinsamen philosophischen Erbes, etwa der Tradition der Aufklärung. Die Länder in Ostasien haben in der chinesischen Kultur und Philosophie, darunter der Konfuzianismus, der Buddhismus und die Schriftzeichen, gemeinsame Wurzeln. Aber sie streiten lieber darüber, wer dieses Erbe heute am besten verkörpert.
Aus der Sicht von China hat Japan die asiatischen Werte durch seinen Angriffskrieg verraten. Umgekehrt hat sich China durch den Maoismus von Asien verabschiedet, während Korea es nicht einmal schafft, eine gemeinsame Nation zu bilden. Zudem mangelt es den drei Hauptländern an gemeinsamen Institutionen, um über dieses Erbe zu verhandeln, während die Europäer eine Kommission mit weitreichenden Kompetenzen, ein Parlament mit Vertretern aller Länder und die NATO als Sicherheitsorganisation haben. Dagegen dauert es in Ostasien manchmal Jahre, bis die wichtigsten Führer sich an einen Tisch setzen und miteinander vertraut werden können. Auch deswegen sind die Beziehungen bis heute frostig geblieben.