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Juri Andruchowytsch im Interview

Birgit Görtz21. Dezember 2013

Er ist aktuell der populärste Schriftsteller der Ukraine. Die DW sprach mit Juri Andruchowytsch über die Stimmung der Oppositionsbewegung auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew.

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Juri Andruchowytsch (Foto: picture alliance)
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Herr Andruchowytsch, wir erreichen Sie in Ihrer Heimatstadt Iwano-Frankiwsk. Sie sind aber schon fast wieder auf dem Rückweg nach Kiew. Welche Eindrücke haben Sie vom Maidan mitgenommen?

Juri Andruchowytsch: Ich denke, die Menschen fühlen sich zum Maidan hingezogen. In gewisser Weise ist die aktuelle Situation mit der von 2004, der Orangenen Revolution, vergleichbar. Aber es gibt auch Unterschiede, vor allem weil die orangene Farbe fehlt. Es gibt nicht mehr diese Bewegung, die damals den Kandidaten Juschtschenko (den Präsidentschaftskandidaten der Opposition, Anm. d. Red.) unterstützt hat.

Heute gibt es andere Ziele. Es geht hauptsächlich um die Rückkehr zum geplanten Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union und die Änderung der Machtverhältnisse. Beide Ziele sind sehr schwer zu erreichen. 2004 war es viel einfacher. Es ging damals lediglich darum, eine Wiederholung der Stichwahl bei den Präsidentschaftswahlen zu erreichen, die der oppositionelle Kandidat damals gewinnen konnte. 2013 verlaufen die Massenproteste in Wellen. Wochentags sind auf dem Maidan weniger Leute, aber am Wochenende gibt es immer sehr viele Teilnehmer. Bei den größten Demonstrationen der vergangenen 30 Tage waren mehr als eine Million Menschen auf dem Maidan.

Der Organisationsgrad der Teilnehmer ist sehr hoch. Die Versorgung mit Essen und Trinken ist gut organisiert. Alle Teilnehmer erfüllen wichtige Funktionen, wie bei einem Organismus. Neu sind die Barrikaden: Sie wurden zuletzt immer höher und werden aus allen möglichen Materialien gebaut: aus Holz, aus mit Schnee gefüllten Säcken, aus Metall.

Die Stimmung ist ziemlich kontrastreich. Es gibt Momente, in denen alle euphorisch sind. Dann gibt es auch psychologisch schwierige Momente. Besonders, wenn die Staatsmacht kein Zeichen von Schwäche zeigt.

Neue Strukturen und viele Bürgerinitiativen

2004 waren die führenden Figuren der Opposition der spätere Präsident Juschtschenko und die inzwischen inhaftierte Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Heute sehen wir im Westen vor allem Vitali Klitschko als Anführer der Opposition. Um wen zentrieren sich die Proteste aus Ihrer Sicht?

Das ist ein Unterschied zu 2004. Es gibt keinen Personenkult. Die Führer der politischen Parteien, die ab und zu auf der Bühne erscheinen, sind natürlich wichtig. Sie sind aber keinesfalls der Messias. Wichtig ist, dass die Menschen auf dem Maidan für sich stehen. Es bilden sich neue Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft. Es gibt sehr viele Initiativen. Es entsteht das Bewusstsein, dass man jeden Politiker kritisch beobachten und kontrollieren muss.

Demonstranten unter ukrainischer Flagge (Foto: Reuters)
Die Proteste in der Ukraine gehen weiterBild: Reuters

Ihr Schriftsteller-Kollege Serhij Zhadan sagte uns in einem Interview, seiner Ansicht nach sei ein Reifungsprozess der ukrainischen Gesellschaft zu beobachten. Teilen Sie diese Beobachtung?

Ja, natürlich. Ich bin auch dieser Ansicht. Wir sehen eine Fortsetzung der Ereignisse von 2004. Die gesellschaftlichen Prozesse, die damals in Gang gekommen sind, werden jetzt sichtbar. Das gilt auch dann noch, wenn die heutige Situation nicht im Sinne der Protestierenden endet. Diese Erfahrungen und die neue gesellschaftliche Qualität werden bleiben.

Kredite aus Russland

Präsident Janukowitsch hat in Moskau die Vertiefung der Kooperation mit Russland vereinbart und einen 15-Milliarden-Dollar-Kredit erhalten. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Dazu kann ich nichts Genaues sagen, weil es ganz widersprüchliche Berichte gibt, was da eigentlich genau unterschrieben wurde und was nur Gegenstand von Gesprächen war. Aber die pro-russische Entwicklung, die die ukrainische Führung zeigt, ist ein klares Zeichen dafür, dass sich Präsident Janukowitsch und seine Leute vom europäischen Weg entfernen. Sie haben in Russland einen temporären Partner gefunden. Ich denke, wir sehen einen sehr verwirrten Knoten aus verschiedenen Interessen, bei dem die Interessen der Führungsclique und private Interessen viel höher stehen als die des Staates.

Wie sehen Sie die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen bei den Protesten auf dem Maidan?

Die Künstler spielen eine große Rolle: Sie demonstrieren, treten auf der Bühne auf. Es gibt sogar eine unabhängige Universität auf dem Maidan, wo die Intellektuellen, die Wissenschaftler und Künstler Vorlesungen und Seminare abhalten. Es gibt sehr viele Aktivitäten in den Medien, Kolumnen und Blogs. Bemerkenswert ist, dass der Ton bei den Auftritten auch gegenüber der politischen Opposition kritisch ist. Die Künstler sind ebenso wenig wie die Maidan-Demonstranten besonders zufrieden mit den oppositionellen Parteiführern. Das heißt, man kritisiert die politische Opposition, arbeitet aber mit ihr zusammen.

Demonstranten in Kiew (Foto: Getty Images)
Viele Menschen zieht es auf die StraßeBild: Yuriy Dyachyshyn(FP/Getty Images

Sie sind in Deutschland bestens vernetzt. Erhalten Sie Solidaritätsbekundungen deutscher Schriftstellerkollegen?

Ich bekomme von deutschen Journalisten und Buchhändlern Briefe, aber von einem deutschen Schriftsteller habe ich noch keinen Brief bekommen. Was die Schriftstellerkollegen angeht, positioniert sich Österreich sehr aktiv. Es gibt einen Offenen Brief der aktuell besten österreichischen Schriftsteller wie Elfriede Jelinek, Robert Menasse und Gerhard Ruiss. In diesem Brief zeigen sich mehr als 50 österreichische Autoren solidarisch mit den ukrainischen Protesten. Das ist ein sehr wichtiger Beitrag für uns.

Rolle der EU

Wie sehen Sie denn die Rolle der deutschen beziehungsweise der europäischen Politik? Was haben die Verantwortlichen falsch gemacht?

Die EU hat leider die Initiative verloren. Sie muss jetzt sehr stark überlegen, was zu tun ist. Sie haben die Rolle des russischen Drucks total unterschätzt. Sie hatten die ganze Zeit Signale erhalten, dass Russland kategorisch gegen dieses Abkommen ist. Sie reagierten aber so, als ob es nur um zwei potentielle Partner ginge - die EU und die Ukraine. Das ist juristisch richtig, aber de facto hätten sie dem russischen Druck etwas entgegenstellen sollen.

Das ist im Allgemeinen ein Problem: Die EU hat oft keine abgestimmte Position. Es gibt Positionen aus dem einen oder anderen Mitgliedsland. Der Weg zu einer gemeinsamen Entscheidung ist schwierig und langwierig. Das war im Falle der Ukraine sehr sichtbar.

Was denken Sie: Wie geht es mit den Protesten weiter? Wird Janukowitschs Taktik des Aussitzens aufgehen?

Seine Taktik ist, dass der Maidan langsam müde wird. Es ist möglich, dass die Demonstrationen langsam schrumpfen. Aber die Situation ist nicht wirklich vorhersehbar. Im Moment ist alles offen.