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Junge oder Mädchen? Wir wollen's NICHT wissen!

6. August 2019

Wir erwarten unser erstes Kind. Und alle so: Awwww, Junge oder Mädchen? Warum sind nur alle so auf das Geschlecht fixiert? Und hat das Folgen für die Kinder? DW-Reporterin Anna Sacco hat Überraschendes herausgefunden.

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Baby Geschlecht | Schuhen
Bild: picture-alliance/BSIP

Natürlich stellen auch wir uns Fragen über unser zukünftiges Baby: Wird es seine blauen Augen haben und meine braunen Locken? Ob es wohl den sonnigen Charakter des Vaters oder die Grüblernatur der Mutter erben wird? Doch die Frage nach dem Geschlecht unseren zukünftigen Kindes stellen wir uns - ganz bewusst - nicht.

Ob Penis oder Vulva, das Geschlechtsteil ist nur eines von vielen Merkmalen, die unser Kind ausmachen werden. In welche Richtung sich die anderen Eigenschaften entwickeln, entdecken wir schließlich auch erst später. Warum sollten wir uns ausgerechnet auf dieses eine Merkmal fixieren, nur weil es zufällig schon jetzt sichtbar ist? Darüber, ob der Charakter unseres Kindes von Natur aus wild und abenteuerlustig oder brav und lieb sein wird, verrät uns das Geschlechtsteil jedenfalls nichts. Und schon gar nicht, ob es rosa oder hellblau mag.

In unserem Umfeld stoßen wir mit dieser Haltung allerdings zumeist auf Unverständnis: Wie wir dann wissen, so werden wir gefragt, was wir für das Kind kaufen sollten?

Kategorisierung ab Tag Eins

Statur, Schuhgröße oder Hüftumfang: Bis zur Pubertät entwickeln sich die meisten Jungs und Mädchen völlig gleich. Dennoch ist die Einteilung in Junge oder Mädchen für viele Menschen so wichtig, dass diese Unterscheidung von Anfang an mit bestimmten Farben, Klamotten oder Accessoires nach außen getragen werden muss. Warum eigentlich?

Um das herauszufinden, spreche ich mit der Psychologin Stefanie Peykarjou. Sie forscht zu Entwicklungspsychologie und kennt sich mit Kategorisierungen aus. "Dinge in Kategorien einzuordnen, zum Beispiel 'belebt - unbelebt', 'Tier - Mensch', 'Junge - Mädchen', entwickelt sich schon sehr früh im Säuglingsalter", erklärt sie. Das helfe uns, unsere Umgebung schnell zu verstehen und Vorhersagen zu machen, etwa: Ist das ein Stein oder eine Ameise? Wer wird sich wahrscheinlich wie verhalten?

Die Welt in Kategorien einzuteilen ist also erst einmal sehr sinnvoll. "Wichtig ist aber," so die Expertin, "dass wir nicht bei dieser ersten, automatischen Einordnung stehen bleiben, sondern einen offenen Denkprozess anschließen."

Will heißen: Auch wenn das Kind Lisa heißt und vielleicht gerne Kleider trägt und schöne Frisuren mag, kann sie dennoch ein kleiner Wildfang sein. Vielleicht spielt sie lieber mit Autos, als mit Puppen. Oder mit beidem gleich gerne. "Wenn Kinder aber ständig als Junge oder Mädchen eingeordnet werden und ihre Umgebung damit klare Erwartungen an das Kind verknüpft, kann das die individuelle Entwicklung natürlich beeinträchtigen", sagt die Entwicklungspsychologin.

Schublade auf, Kind rein

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Die Firma Maggi ist nicht die einzige, die ihre Produkte in zwei Versionen anbietet.Bild: Maggi

Der Einfluss des sogenannten Gendermarketings ist allerdings so groß, dass es für Kinder immer schwieriger wird, eigene Neigungen und Interessen zu entdecken. Ob Kleidung, Spielzeug oder Pflegeprodukte - das zweigeteilte Narrativ der rosa-glitzernden Prinzessin versus dem abenteuerlustigen Helden ist in der Werbewelt allgegenwärtig.

Die Gender-Expertin Aline Oloff sieht sogar einen Zusammenhang zwischen diesen stereotypen Zuschreibungen in der frühen Kindheit und der späteren Berufswahl: "Wenn man sich allein den Bereich des Kinderspielzeugs anschaut, dann werden Kindern dort unterschiedliche Zukunfts- und Selbstentwürfe angeboten - je nachdem, ob sie Mädchen oder Junge sind."

Dass der Gender Bias - also die unbewusste Zuschreibung von Vorlieben, Eigenschaften und Fähigkeiten aufgrund des Geschlechts - schon im Kinderzimmer anfängt, ist keine neue Erkenntnis: Die sogenannten Baby-X-Experimente der Psychologin Phyllis A. Katz haben schon in den 1970er Jahren gezeigt, wie unterschiedlich Kinder von Erwachsenen behandelt werden, je nachdem, ob diese annehmen, das Kind sei männlich oder weiblich: Baby Mary bekam häufiger die Puppe zum Spielen angeboten, Baby Johnny dagegen den Ball. Beide Male handelte es sich um dasselbe Baby, beide Male in einem gelben Strampler.

Die BBC hat das Experiment in einem Video nachgestellt und kam zum gleichen Ergebnis: Das als Mädchen ausgegebene Kind wurde mit Puppen und Kuscheltieren bespaßt. Der vermeintliche Junge dagegen bekam Spielzeug angeboten, das räumliches Denken und motorische Fähigkeiten trainiert.

Erwartungen mit weitreichenden Folgen

 "Also unser Kind darf mit allem spielen", hören wir oft, wenn wir das Thema Gender-Spielzeug ansprechen. Und doch wird häufig bei der Frage, ob der Junge sich auch eine Puppe statt Lego-Flugzeug oder Bagger zum Geburtstag wünschen darf, das Gesicht verzogen. Jungs "machen" doch viel lieber und Mädchen "kümmern" sich gern, so sind sie halt "von Natur aus". Das kommt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gleich, denn auch schon kleine Kinder wollen den Erwartungen, die an sie gestellt werden, entsprechen.

Dass diese Erwartungen durchaus unterschiedlich sind, wurde in einem Experiment zur motorischen Fähigkeit von Kindern nachgewiesen: Obwohl objektiv kein Unterschied vorhanden war, tendierten Eltern dazu, ihre Söhne zu überschätzen, während den Töchtern weniger zugetraut wurde. Von freier Entfaltung kann also nicht die Rede sein.

"Es braucht als Mädchen schon ein überdurchschnittliches Selbstbewusstsein, um den Spaß an technischen Dingen nicht zu verlieren, wenn um einen herum alle überzeugt sind, dass Jungs angeblich besser darin seien", sagt Sascha Verlan, Co-Autor der Rosa-Hellblau-Falle , einem Buch über Rollenklischees im Familienalltag. Wer als kleiner Junge gerne mit Puppen spiele und dabei ständig "im Spaß" mit niedlichen Puppenmuttis verglichen werde, müsse sich über ganz schön viele Grenzen hinwegsetzen, sollte er sich entscheiden Erzieher zu werden.

Raus aus der Rosa-Hellblau-Falle

Sobald das Geschlecht eines Kindes bekannt ist, werden bestimmte Rollenbilder ganz automatisch zugeteilt – oft sogar noch vor der Geburt. Wird es ein Junge, beschreiben Mütter die Kindsbewegungen im Bauch plötzlich als lebendig und besonders aktiv. Mädchen verhalten sich dagegen angeblich viel braver im Bauch.

Auch ein Klassiker: Der werdende Papa wünsche sich doch sicherlich einen Jungen, mit dem er Ball spielen könne, hören wir aus dem Bekanntenkreis. Und die Mama freue sich bestimmt mehr über ein Mädchen – schließlich könne sie sie dann "so toll anziehen".

"Es ist weniger schlimm, Vorurteile zu haben, als zu glauben, man hätte keine. Denn die reicht man dann unbewusst weiter", so Verlan. Wenn wir also nicht wissen wollen, ob unser ungeborenes Kind ein Junge oder Mädchen ist, dann auch, um uns ein bisschen vor uns selbst und unserer eigenen Stereotypisierung zu schützen.

Schließlich sind wir selbst in einer Gesellschaft aufgewachsen, die die Einteilung in Junge oder Mädchen permanent macht und reproduziert. Wie kommen wir da raus? "Zum einen den Kindern ihre Vorlieben lassen und vor allem kleine Jungen nicht sanktionieren, wenn sie nach einer Puppe greifen, gerne malen oder sich im Schuhladen für die goldenen Ballerinas entscheiden", rät Geschlechterforscherin Oloff.

Die Psychologin Peykarou ergänzt: "Die Forschung hat gezeigt, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Jungen oder zwischen verschiedenen Mädchen sehr viel größer sind als die zwischen dem 'durchschnittlichen' Jungen oder dem 'durchschnittlichen' Mädchen. Wir sollten also viel mehr auf die Besonderheiten unseres Kindes achten als darauf, welches Geschlecht es hat."

Genau das wollen wir auch tun – egal, ob Junge oder Mädchen!

DW Kommentarbild Anna Sacco
Anna Sacco Berichtet über populärwissenschaftliche Themen, Entwicklungspsychologie und Reproduktionsmedizin.