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Politik

Junge Bosnier fordern Reformen

Aida Sofic Salihbegovic
19. November 2020

Mit dem Kriegsende 1995 hat Bosnien und Herzegowina eine Verfassung erhalten, die die Bevölkerung des Landes spaltet und Minderheiten diskriminiert. Junge Bürgerinnen und Bürger sind überzeugt: Sie müssen das ändern.

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DW Projekt | Balkan Booster | Dayton-Abkommen
Bild: DW

Bosnien: "Es ist Zeit für einen neuen Deal"

"Basierend auf der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit (…) beschließen hiermit Bosniaken, Kroaten und Serben als konstituierende Völker (gemeinsam mit Anderen) die folgende Verfassung".

Mit diesen Worten beginnt der "Annex" 4 des Friedensabkommens, das den Krieg um die ex-jugoslawische Republik Bosnien und Herzegowina Ende 1995 nach fast vier Jahren beendete. Seitdem ist das Dokument, das zusammen mit dem Abkommen am 21. November 1995 auf der US-Luftwaffenbasis in Dayton/Ohio beschlossen und am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet wurde, die Verfassung des bosnischen Nachkriegsstaates.

Vor 25 Jahren war allen Beteiligten klar, dass die "Dayton-Verfassung" besser früher als später vom Friedensabkommen abgetrennt und verändert werden muss, wenn Bosnien ein normales europäisches Land werden soll. Denn das Dokument schreibt nicht nur die Eroberungen der Kriegsjahre fest, sondern räumt den drei "konstituierenden Völkern" des Landes auch mehr Rechte ein, als Angehörigen von nationalen Minderheiten wie Juden oder Roma - und verhindert damit die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU, in der Diskriminierungen verboten sind.

USA Milosevic Tudjman und Izetbegovic in Dayton
Die Präsidenten der am Bosnien-Krieg beteiligten Staaten nach den Friedensverhandlungen in Dayton/Ohio am 21. November 1995 (v.l.n.r.): Slobodan Milošević (Serbien), Alija Izetbegović (Bosnien) und Franjo Tudjman (Kroatien) Bild: Getty Images/AFP/J. Ruthroff

Aber eine Reform der Dayton-Verfassung ist trotz vieler Versuche bisher nicht gelungen. Dementsprechend ist auch der EU-Beitritt Bosniens in weite Ferne gerückt. Stattdessen verlassen seit Jahren immer mehr junge Bürgerinnen und Bürger ihre Heimat in Richtung Europa. Was denkt die junge Generation in Bosnien 25 Jahre nach dem Krieg über Dayton?

Mini-Staaten mit zu viel Bürokratie

"Dayton hat es geschafft, den Krieg zu stoppen - und das war's. Punkt", sagt der 24jährige Student Emir Karamujić. Emir lebt im "Distrikt Brčko", der neben den beiden "Entitäten" - der bosniakisch-kroatischen "Föderation" und der serbischen "Republika Srpska" - dritten Verwaltungseinheit Nachkriegs-Bosniens.

DW Projekt | Balkan Booster | Emir Karamujic
Der 24jährige Student Emir Karamujić lebt im bosnischen Sonderverwaltungsgebiet "Distrikt Brčko"Bild: DW

"Alles nach Kriegsende war meiner Meinung nach falsch", ergänzt der 23-jährige Emir Čelebić aus Bihać, einer Stadt in einem der zehn "Kantone" der Föderation. "Dayton hat aus den Entitäten Mini-Staaten gemacht, die viel zu viel Macht haben."

Diskriminierung der Minderheiten

Neben dem für das 3,5 Millionen-Einwohner-Land völlig überdimensionierten Staatsapparat ist das größte Problem der Dayton-Verfassung, dass Angehörige der nationalen Minderheiten in Bosnien nicht für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren können - denn das höchste Amt im Staat ist Angehörigen der konstituierenden Völker vorbehalten. Eine klare Diskriminierung.

DW Projekt | Balkan Booster | Jovana Barbu
Die 20-jährige Romni Jovana Barbu lebt im serbisch dominierten Teil Bosniens, der "Republika Srpska"Bild: DW

Jovana Barbu ist 20 Jahre alt, wohnt in der Republika Srpska und gehört zur Minderheit der Roma. Dass sie in ihrem eigenen Land aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert wird, enttäuscht sie: "Wenn man wie ich Teil einer Minderheit ist, die in der Verfassung nicht einmal namentlich genannt wird, muss man sich fragen: Was sind wir Roma für Bosnien? Wo sind wir in Dayton? Gibt es uns in den bosnischen Gesetzen? Nein, wir sind nirgendwo."

EU-Beitritt verhindert

Bürgerinnen und Bürger Bosniens, die nicht Teil der drei großen Nationalitäten des Landes sind, stoßen immer wieder auf Barrieren, sagt Jovana. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Jahr 2009 entschieden, dass die bosnische Verfassung Minderheiten diskriminiert - und daher geändert werden muss. Zu einer Umsetzung dieses Urteils aber kam es bis heute nicht.

Bosnien-Herzegowina | Impressionen Stolac | Zentrum
Trügerische Idylle: Im bosnischen Stolac müssen katholische und muslimische Schüler verschiedene Schulen besuchenBild: DW/A. Salihbegovic

"Dayton war nicht erfolgreich, denn es hat uns noch stärker aufgeteilt", meint Emin Čekro. Der 18-jährige lebt in Stolac, einer Stadt in der Föderation, in der Schüler verschiedener ethnischer Herkunft verschiedene Schulen besuchen müssen. In sogenannten Zwei-Schulen-unter-einem-Dach wird jungen Bosniaken beigebracht, dass die Eltern ihrer kroatischen Mitschüler im Krieg ihre Eltern angegriffen hätten - und umgekehrt.

Zeit für einen neuen Deal

"Wir brauchen definitiv ein Dayton-Abkommen Nummer 2. Ich denke, wir jungen Leuten müssen da die Initiative ergreifen. Wir müssen anfangen, Dayton sozusagen zu revolutionieren", sagt Jovana Barbu.

Emir Karamujić meint: "Ich denke, es ist Zeit für einen neuen Deal. Und der muss so diskutiert werden, dass alle Bürger daran teilnehmen können, dass wir alle sagen können, wie wir Bosnien in Zukunft gestalten möchten, welches System wir wollen".

Spaltung beenden

Obwohl immer mehr junge Bosnierinnen und Bosnier ihre Heimat verlassen, haben viele die Hoffnung auf ein neues, besseres Bosnien noch nicht verloren. Sie sind sich einig: Die Vergangenheit sollte dortbleiben, wo sie hingehört - in der Vergangenheit.

Bosnien Herzegowina Belagerung von Sarajevo
Das soll nie wieder passieren: Bürger der bosnischen Hauptstadt Sarajevo fliehen 1992 vor den Kugeln der Heckenschützen Bild: picture-alliance/ dpa

"Zuallererst brauchen wir Frieden. Wir möchten das, was hier in den 1990er Jahren passiert ist, nie wieder erleben. Dazu brauchen wir eine friedliche Koexistenz - und eine neue Vereinbarung zwischen uns allen", meint Miloš Kovačević (25) aus Banja Luka in der Republika Srpska.

Emir Čelebić will vor allem, dass die Spaltung der Bosnierinnen und Bosnier in Nationalitäten endlich aufhört: "Ich will Bosnien und die Völker, die hier leben, einig sehen. Ich will einen Staat ohne Spaltungen und Grenzen".

Drei Teilnehmerinnen und drei Teilnehmer des DW-Projekts "Balkan Booster" machten im Herbst 2020 einen Roadtrip durch neun bosnische Städte, wo sie mit jungen Menschen aus allen ethnischen Gruppen sprachen. Anlässlich des 25. Jahrestags der Friedensverhandlungen in Dayton/Ohio am 21.11.2020 produzierten sie zehn Videos in den Landessprachen Bosnisch, Kroatisch und Serbisch - und eins auf Deutsch. Sie finden es über diesem Text.