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Politik

Wer enthüllt, lebt gefährlich

9. Mai 2019

Erneut ist ein Investigativjournalist in der Ukraine brutal überfallen worden. Medienmacher beklagen ihre Schutzlosigkeit und sprechen von einem Versagen der Justiz.

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Ukraine Demonstration gegen Zensur und für Meinungsfreiheit in Kiew
Demonstration gegen Zensur in Kiew: Auf den T-Shirts steht "Meinungsfreiheit" Bild: SERGEI SUPINSKY/AFP/Getty Images

Vadym Komarow ist einer, der nicht schweigt. In der verschlafenen Provinzhauptstadt Tscherkassy, drei Autostunden südlich von der Hauptstadt Kiew, gibt es nicht viele Journalisten, die der Stadtverwaltung und den lokalen Größen genau auf die Finger schauen. Komarow schon. Er ist wohl der entschlossenste von ihnen. Seit Jahren bringt er Missstände im Bau- und Gesundheitswesen und Korruptionsfälle in der Lokalpolitik ans Licht. Auf seiner Facebook-Seite kündigte er kürzlich die Veröffentlichung brisanter Mitschnitte an. Darauf sollen angeblich Stimmen von zwei städtischen Beamten zu hören sein, die einen unliebsamen Funktionär erpressten, indem sie mit der Schließung von Sportstätten drohen. Doch der Facebook-Post mit den Mitschnitten bleibt aus. Seit dem 4. Mai gibt es auf der Seite des Journalisten weder neue Enthüllungen noch seine üblichen bissigen Kommentare. Denn Vadym Komarow liegt im Koma, nachdem er von Unbekannten mitten im Stadtzentrum von Tscherkassy fast zu Tode geprügelt wurde.

Erschütterung unter Kollegen

Die Polizei ermittelt mit Verdacht auf versuchten Mord. Komarows Kollegen sind überzeugt, dass der Überfall mit seinen Enthüllungen zu tun hat. "Die Hintermänner dieses schweren, abscheulichen Verbrechens müssen unbedingt zur Verantwortung gezogen werden", fordert Valerij Makejev, ebenfalls Journalist aus Tscherkassy, in einem Videoblog. Zusammen mit Komarow drehte er kürzlich eine Reportage über die Veruntreuung von Geldern bei einem städtischen Sozialprojekt. Die Sendung wurde ausgestrahlt, kurz nachdem Komarow zusammengeschlagen worden war.

Vadym Komarow - ukrainischer Journalist
Journalist Komarow: Von Unbekannten fast zu Tode geprügeltBild: Privat

Der Übergriff auf den Enthüllungsjournalisten in Tschekassy hat international für Aufsehen gesorgt. Der OSZE-Beauftragte für Pressefreiheit sowie Vertreter internationaler Journalistenverbände schlossen sich am 6. Mai den Forderungen des ukrainischen Journalistenverbands nach Aufklärung des Überfalls auf Komarow an. "Wir äußern unsere Solidarität mit Vadym und seiner Familie. Reporter, die Fälle von Korruption enthüllen, sind für eine Demokratie unabdinglich, und es ist wichtig, dass sie von den Behörden geschützt werden", so der Generalsekretär des Internationalen Journalistenverbandes, Anthony Bellanger.

Gewalt als Alltag

Gewalt gegen Journalisten ist in der Ukraine alltäglich. Seit Anfang des Jahres zählte der ukrainische Journalistenverband 23 Übergriffe auf Medienschaffende. Im Jahr 2018 waren es insgesamt 86 und damit deutlich mehr als noch ein Jahr zuvor, sagte Verbandschef Sergij Tomilenko der Deutschen Welle. "Was uns Sorge bereitet, ist die systematische Straflosigkeit. Leider können wir nicht feststellen, dass in der Ukraine Gewalt gegen Journalisten rasch und mit Nachdruck aufgeklärt wird. Wir können keinen einzigen Fall nennen, in dem Angreifer vor Gericht verurteilt wurden", beklagt Tomilenko.

So wird Brutalität gegenüber Journalisten zur Normalität. Während internationale Verbände und Institutionen sich empören und Aufklärung fordern, scheint der Anschlag auf Vadym Komarow in der Ukraine selbst nur wenige zu interessieren. Dabei ist öffentlicher Druck meist die einzige Chance, dass sich die Justiz ernsthaft anstrengt, einen Fall aufzuklären. Das zeigt unter anderem der Fall der Aktivistin Kateryna Handsjuk aus Cherson in der Südukraine. Handsjuk, die die Verstrickungen zwischen der Lokalpolitik und dem organisierten Verbrechen öffentlich anprangerte, starb im November 2018 nach monatelangem Kampf um ihr Leben. Im Juli 2018 war sie von Auftragstätern mit Schwefelsäure übergossen worden.

Ermittlungen unter öffentlichem Druck

Bewegung in die Ermittlungen im Fall Handsjuk kam erst nach monatelangen Protesten in Kiew, als sich der Generalstaatsanwalt einschaltete. Auftraggeber des Mordes sollen nach Auffassung der Ermittler einflussreiche Lokalpolitiker der Region Cherson sein. Bevor der Generalstaatsanwalt Namen der Verdächtigten nannte, gab es vor Ort hektische Vertuschungsversuche, wie Reporter aus der Region berichten. Zudem wurden Journalisten bedroht und überfallen, die in der Sache recherchierten.

Wie die verstorbene Aktivistin Handsjuk war auch Vadym Komarow vielen einflussreichen lokalen Größen ein Dorn im Auge. Als freiberuflicher Journalist und bekannter Blogger arbeitete Komarow an der Grenze zum Aktivismus. Regelmäßig berichtete er in sozialen Netzwerken aus den Gerichtssälen der Stadt, in die er Menschen begleitete, die gegen die lokale Verwaltung oder mit ihr eng verbundene einflussreiche Geschäftsleute für Gerechtigkeit kämpften. Für den Enthüllungsjournalisten und Aktivisten aus Tscherkassy gehörte die Angst um sein Leben dazu. Im Jahr 2016 wurde er von Unbekannten angeschossen, ein Jahr später brutal verprügelt, als er über Einwohnerproteste gegen illegale Bauprojekte berichtete.

"Es wird zum Verhaltensmuster, insbesondere in der ukrainischen Provinz: Wenn man einen Journalisten nicht mag, wenn er Ärger macht, wird er verprügelt und es wird nicht geahndet. Daher kommt es immer öfter zu Übergriffen, aber auch zu Einschüchterungsversuchen, bei denen zum Beispiel Autos in Flammen aufgingen", sagt Sergij Tomilenko vom nationalen Journalistenverband. Waren früher überwiegend männliche Kollegen Opfer von Gewalt, werden inzwischen zunehmend auch Frauen tätlich angegriffen. Die Anzahl der Übergriffe auf Journalistinnen verdoppelte sich nach Angaben des Verbands innerhalb eines Jahres.