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Politik

Japans Prüfungshölle auf Höchsttemperatur

Martin Fritz aus Tokio
15. Januar 2021

Trotz gestiegener Corona-Zahlen in Japan unterziehen sich rund 500.000 Hochschulanwärter am Wochenende der gefürchteten zentralen Prüfung. Martin Fritz aus Tokio.

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Japan Tokyo japanischen Studenten
Das Ergebnis der Zentralprüfung bestimmt die berufliche und finanzielle Zukunft der angehenden Studenten (Archiv) Bild: picture-alliance/ZUMA Press/y06

Zwölf Monate ist Mari Kaneko (Name geändert) schon durch die "Prüfungshölle" gegangen, wie die Japaner sagen, hat von morgens bis abends gebüffelt, auch an jedem Wochenende, hat mehrere Intensivkurse in Juku-Paukschulen absolviert und immer wieder Probeaufgaben gelöst. Ihre gewaltigen Anstrengungen dienen einzig und allein dazu, an diesem Wochenende bei der nationalen Aufnahmeprüfung für die Universitäten eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. "Es ist wirklich eine Hölle", seufzte die 18-Jährige, die Architektur studieren will.

Japan Schüler Mittelstufe
Oberschüler in Japan (Archiv) Bild: picture-alliance/dpa/Pana

Die rund 535.000 Oberschulabsolventen, die sich am Samstag und Sonntag landesweit in 681 Testzentren versammeln und rund die Hälfte ihres Jahrgangs ausmachen, stehen unter enormem Leistungsdruck: Denn je weiter oben eine Universität in der nationalen Rangliste steht, desto höher ist die Punktzahl, die sie für die Zulassung verlangt. Die obersten Adressen wie die Universität Tokio und die Universität Kyoto benutzen das Testergebnis sogar nur zur Vorauswahl und veranstalten im Februar und März noch eigene Eingangsprüfungen.

Entscheidung über Lebensweg

Gleichzeitig gilt: Je höher die erreichte Universität steht, desto sicherer ist eine Feststellung bei Top-Unternehmen wie Toyota und Sony oder als Karrierebeamter, frei nach dem Motto: Die Besten nehmen nur die Besten. Außerdem streben Prüflinge aus weniger begüterten Familien einen Studienplatz an einer guten staatlichen Universität an. Deren Studiengebühren sind im Schnitt um mehr als die Hälfte niedriger als bei den privaten Universitäten.

Vom Ergebnis der Zentralprüfung hängt die berufliche und finanzielle Zukunft der Studenten in Japan also mehr ab als in Ländern mit einem weniger rigiden Zugang zu akademischer Bildung. Diejenigen, die mit ihrer Punktezahl und Zulassungschancen unzufrieden sind, lernen daher oft ein ganzes Jahr lang weiter und versuchen, bei der nächsten Zentralprüfung ihr Ergebnis zu verbessern. Der Anteil dieser sogenannten Ronin-Schüler, die nach den herrenlos umherwandernden Samurai-Kriegern der Feudalzeit benannt sind, beträgt diesmal 15 Prozent.

Reformierte Englischprüfung

In diesem Jahr müssen die Prüflinge aber noch besondere Hürden überwinden. Zum ersten Mal seit 1990 hat das Bildungsministerium die Inhalte und den Stil des Examens reformiert. Die größte Änderung betrifft das Fach Englisch. Die Prüfung des Hörverständnisses machte bisher nur 20 Prozent der erreichbaren Punkte aus, von nun an sind es 50 Prozent. Dafür fällt der bisherige Grammatikteil weg. Die neue Anforderung, mehr gesprochenes Englisch zu verstehen, hat Lehrer und Schüler geschockt. Doch die Regierung will die praktischen Fähigkeiten der Hochschulanwärter im Englischen verbessern, da Japan im asienweiten Vergleich hier schwach abschneidet.

Die zweite Reform gilt den Multiple Choice-Tests in den Prüfungen. Deren ursprünglich geplante Abschaffung in einigen Fächern wie Japanisch scheiterte am Protest vieler Eltern, die eine subjektive Bewertung von selbstgeschriebenen Lösungen als unfair ablehnten. Aber nun sind die Fragen und die vorgegebenen Antworten so formuliert, dass sich damit Wissensqualität und Urteilsfähigkeit besser als in der Vergangenheit messen lassen.

COVID-19 als Angst- und Störfaktor

Für Komplikationen sorgt die Corona-Pandemie. Zwar werden die Prüfungen durch den staatlichen Corona-Notstand, der seit Donnerstag in elf der 47 Präfekturen herrscht, nicht beeinträchtigt. Aber die Teilnehmer müssen während der gesamten Prüfung eine Maske tragen sowie warme Kleidung mitbringen, da die Räume in den Pausen gelüftet werden. Mitgebrachtes Essen sollen sie am eigenen Platz verzehren. Ausnahmsweise wurde ein Wochenende im Februar als Nachprüfungstermin angesetzt, falls Prüflinge sich mit dem Coronavirus infiziert haben.

Anders als bei der Zentralprüfung in Südkorea in Dezember stehen an den Eingängen der Testzentren jedoch keine Thermomessgeräte für die Körpertemperatur. Die Teilnehmer sollen nicht mit der Sorge zum Prüfungsort fahren, dass sie dort wegen womöglich erhöhter Temperatur kurzfristig abgewiesen werden, teilten die Behörden mit. Vielmehr forderte man jeden angemeldeten Prüfling auf, in den Tagen zuvor selbst die Temperatur zu messen. Für den Fall der Fälle stehen in jedem Zentrum Krankenpfleger und Ärzte bereit.

Schokoriegel als Glücksbringer

Wenn Mari Kaneko am Samstag und Sonntag in einer Turnhalle in Chiba über ihren Aufgaben sitzt und mit einem weichen Bleistift ihre Antwortauswahl auf dem Prüfungsblatt markiert, dann trägt sie auch einen Schokoriegel der Marke Kitkat bei sich und verzehrt ihn in einer Pause - so wie die meisten Prüflinge im ganzen Land.

Durch geschicktes Marketing ist es dem Hersteller Nestlé nämlich gelungen, die Süßigkeit in einen Glücksbringer zu verwandeln. Auf Japanisch wird Kitkat nämlich "kitto katsu" ausgesprochen, was "sicher gewinnen" bedeutet. Daher springt der Absatz der Riegel in Japan zur Prüfungszeit im Januar und Februar in die Höhe. Andere Lebensmittelhersteller haben nachgezogen - es gibt zum Beispiel auch glücksbringende Nudelsuppen im Styroporbecher.

Schokoriegel als Glücksbringer
Kitkat, auf Japanisch "kitto katsu" ausgesprochen, bedeutet "sicher gewinnen"Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Schon am Sonntag und spätestens am Montag, je nach Wunschfach und Zielhochschule, wissen die Teilnehmer, ob sie genügend Punkte gesammelt haben. Die Tageszeitungen veröffentlichen sämtliche Lösungen, so dass die Prüflinge anhand der Aufgaben, die sie mitnehmen dürfen, ihr Ergebnis selbst ausrechnen können - für die einen ein bitterer und die anderen ein freudiger Moment der Wahrheit. Dagegen dauert die Prüfungshölle für die ganz Ehrgeizigen, die sich für eine staatliche Top-Universität qualifiziert haben oder das separate Zugangsexamen einer privaten Eliteuniversität anstreben, noch bis Mitte März.