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Politik

"Das 21. Jahrhundert beginnt mit Corona"

4. Januar 2021

Die Corona-Krise hat unsere Perspektive verändert, sagt der bulgarische Politologe Ivan Krastev im DW-Interview. Die Herausforderung bleibe der Konflikt zwischen individuellen Interessen und Gemeinwohl.

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BG Deutschland steht still | Bahnhof München
Bild: Imago Images/R. Peters

Deutsche Welle: Herr Krastev, vor ziemlich genau einem Jahr begann COVID-19, die Welt zu verändern. Wie hat die Pandemie aus Ihrer Sicht Europa beeinflusst?

Ivan Krastev: Es gab eine bestimmte Lebensweise, die konnte man mögen oder nicht, aber sie galt als selbstverständlich. Und plötzlich stellten wir fest, wie zerbrechlich das war. Wir fanden es zum Beispiel selbstverständlich, dass wir reisen konnten, wohin wir wollten. Das verschwand über Nacht.

Es ist in Mode gekommen, COVID-19 mit einem Krieg zu vergleichen. Aber als ich neulich über Wien nach Sofia geflogen bin, habe ich festgestellt, dass die Pandemie paradoxerweise genau das Gegenteil von Krieg ist. Während eines Krieges sind vor allem Bahnhöfe und Flugplätze völlig überfüllt, weil Menschen die ganze Zeit unterwegs sind, in verschiedene Richtungen reisen, weil sie vor etwas fliehen.

Während der Pandemie dagegen sind diese Plätze die einsamsten der Welt. Dieses Eingefrorensein ist einer von vielen Aspekten, in denen sich etwas verändert hat. Und ich glaube, dass dieser Gedanke, dass die Normalität uns weggenommen wurde, uns erhalten bleiben wird.

Einerseits ist alles eingefroren, andererseits sind Menschen in der ganzen Welt nun virtuell oder digital verbunden.

Ich stimme absolut zu. Osteuropäer meiner Generation sprechen viel über Freiheit und was sie bedeutet. Manchmal ist das geradezu ein körperliches Gefühl. Für jemanden meiner Generation war schon das Überqueren einer Grenze eine der körperlichsten Arten von Freiheit, die man erleben konnte. Und plötzlich mussten wir all das überdenken.

Deutschland Berlin Coronavirus - Flughafen Tegel - Menschenleer
Flughäfen und Bahnhöfe wurden zu "den einsamsten Plätzen der Welt" (Berlin-Tegel, April 2020)Bild: imago images/F. Sorge

In dem Moment, in dem die Menschen in ihren Wohnungen und Häusern eingesperrt waren, haben wir deutlicher als jemals zuvor verstanden, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben. Denn plötzlich haben wir überall in jeder einzelnen Sprache das gleiche Thema diskutiert.

Und diese Vernetzung wurde virtuell, was auf einmal bedeutete, dass ich einem Freund auf der anderen Seite der Straße genauso nah war wie auf der anderen Seite des Globus. Denn wenn Sie Ihr Zuhause nicht verlassen können, sind beide gleich weit entfernt.

Außerdem beginnen wir uns plötzlich für Dinge zu interessieren, die uns normalerweise kalt gelassen haben. Menschen in ihren Wohnungen einzuschließen, hat für manche also tatsächlich die Welt geöffnet, weil sie jetzt verstanden haben, wie verbunden wir sind.

Gleichzeitig begegnen viele Menschen in Europa den Regierungen und den Einschränkungen durch die Pandemie mit mehr Misstrauen. Glauben Sie, dass das mit den verbreiteten Verschwörungsmythen zu tun hat?

Ja, absolut. Wir hören ja etliche. Und wissen Sie, da wo ich lebe, da können Sie wirklich alle möglichen Sorten von Verschwörungsmythen und jede Art von Misstrauen gegenüber der akademischen Community und der Regierung beobachten. Als die Krise anfing, habe ich nicht nur gehofft, sondern sogar erwartet, dass das Vertrauen in die Experten deutlich zunehmen würde. Denn wenn es um die eigene Gesundheit geht, wenn es um Verwandte und Freunde geht, dann sind die Menschen schließlich viel eher bereit, Ärzten und Experten zu vertrauen, als wenn es um, sagen wir mal, Außenpolitik geht.

Der bulagrische Politikwissenschaftler Ivan Krastev im DW-Interview
Ivan Krastev: "Schon das Überqueren einer Grenze war eine körperliche Art von Freiheit"Bild: DW

In Ländern wie Deutschland hält sich die Mehrheit weitgehend an die Ratschläge. Aber in anderen Staaten - nicht nur in Osteuropa, denken Sie mal an Frankreich - können Sie beobachten, dass der Grad an Misstrauen gegenüber jeder Art von Expertenmeinung so hoch ist, dass die Menschen bereit sind, die wildesten Verschwörungsmythen zu glauben.

Interessanterweise profitieren Nationalisten und Populisten nicht von der gegenwärtigen Situation. Vor ein paar Monaten haben viele gedacht, dass Politiker wie Donald Trump oder Viktor Orban durch die Krise noch stärker werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Warum?

Ich würde sagen, Populismus wurzelt nicht in Angst, sondern in Unruhe und Sorge, in einer sehr diffusen Art von Furcht. Die Menschen reagieren darauf, indem sie nach jemandem suchen, der ihre Befürchtungen vertritt. Aber wenn eine Krise wie die Corona-Pandemie kommt, suchen sie nach Politikern, die Verantwortung übernehmen und Probleme lösen.

Und in dieser Hinsicht haben die Populisten nichts angeboten. Viele dieser Regierungschefs, die den starken Mann markieren und so tun, als hätten sie die Lage unter Kontrolle, mögen diese Krise überhaupt nicht. Denn bis zu einem gewissen Grad brauchen solche Krisen Anführer, die in der Lage sind, mit der Gesellschaft zusammenzuarbeiten.

Homeoffice - Arbeitsplatz in der Coronakrise
Corona-Kommunikation: Freunde von gegenüber und am anderen Ende der Welt sind gleich weit entferntBild: Imago/S. Gudath

Was können europäische Demokratien also tun, um ihre Bürger zu überzeugen?

Liberale Demokratien sollten zeigen, dass das Gemeinschaftsinteresse Priorität hat. Menschen haben natürlich das Recht, anderer Meinung zu sein. Aber sie sollten dann auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Zum Beispiel finde ich es völlig in Ordnung, wenn Fluggesellschaften sicherstellen wollen, dass die Menschen an Bord geimpft sind, weil das andere schützt.

Wird dann die Stärke der Demokratie, das Zulassen von Widerspruch, in dieser Situation zu einem Risiko?

Es gibt ein echtes Risiko. Und dieses Risiko taucht in der Phase auf, von der ich hoffe, dass es die letzte der Krise ist, nämlich dem Organisieren der Impfungen. Wir haben hier den klassischen Konflikt, der für alle liberalen Demokratien typisch ist, zwischen individuellen Rechten und dem öffentlichen Interesse. Ich als Einzelperson habe zum Beispiel das Recht zu sagen: Ich möchte nicht geimpft werden. Das ist meine persönliche Entscheidung aus Gründen, die sich sehr von denen anderer Menschen unterscheiden können. Und ich habe das Recht zu entscheiden, welchen Impfstoff ich nehme.

Gleichzeitig brauchen wir eine entscheidende Anzahl an Geimpften, damit unsere Gesellschaft zur Normalität zurückkehren kann. Das ist aus meiner Sicht jetzt ausschlaggebend.

Deutschland | Demonstration gegen Corona-Einschränkungen
Verschwörungsmythen haben zugenommen: Demo gegen Corona-Einschränkungen in Berlin, November 2020Bild: Paul Zinken/dpa/picture alliance

Wie sollen wir also den Konflikt zwischen individuellen Rechten und der Rückkehr zur Normalität regeln - und dabei berücksichtigen, dass jeder Monat, den die Krise länger dauert, einen hohen wirtschaftlichen Preis kostet? Der Druck, sich um die Wirtschaft zu kümmern, wird wachsen.

Europa kann sich nicht leisten, sich als letzter von der Krise zu erholen. Sozioökonomische Unterschiede werden entscheidendes Gewicht bekommen.

Welchen Herausforderungen wird sich das europäische Projekt 2021 gegenübersehen und wie können wir sie angehen?

Ich glaube, es ist für Europa als Ganzes enorm wichtig, 2021 aus der Krise herauszukommen und zu einem gewissen Maß an Normalität zurückzukehren. Das bedeutet im Wesentlichen, die Wirtschaft wiederaufzubauen, die Grenzen zu öffnen und sich auf eine post-pandemische Situation zuzubewegen.

Außerdem halte ich es für entscheidend, wie die Europäische Union sich 2021 in der Welt positioniert. Am wichtigsten sind dabei die Beziehungen zu den USA und China. Die Pandemie markiert den wirklichen Beginn des 21. Jahrhunderts.

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) in Wien.

Das Interview führte Adelheid Feilcke.

Dies ist eine gekürzte Fassung des englischen Originalinterviews. Adaption: Beate Hinrichs