Untergang einer Insel
11. Mai 2016"Wenn ich als Kind auf der Veranda meines Elternhauses stand, waren da viele Bäume rundherum. Mit meinen Cousins habe ich in den Wäldern Baseball oder Football gespielt", erinnert sich Wenceslaus Billliot. "Wenn ich heute auf der Veranda stehe, sehe ich nichts außer Wasser."
Der 64-Jährige ist auf der Isle de Jean Charles geboren und aufgewachsen, einer Insel im sumpfigen Küstengebiet des amerikanischen Bundesstaates Louisiana. Seine Familie wohnt hier seit acht Generationen. Wie die meisten Bewohner, ist auch Billiot Mitglied des Biloxi-Chitimacha-Choctaw-Stammes. Der Indianerstamm bewohnt die Insel seit Anfang des 19. Jahrhunderts.
Mitte der 1970er Jahre lebten rund 100 Familien auf der Insel. Aktuell sind es nur noch 27 - denn die Insel versinkt immer weiter im Meer.
Wenceslaus Billiot hat das Verschwinden seiner Heimat miterlebt. Seit 1955 hat die Insel rund 98 Prozent ihrer Fläche verloren. Jede Stunde verschluckt das Meer weiteres Land - fast in der Größe eines Fußballfeldes. "Es ist schlimm, die Insel verschwinden zu sehen, der Heimatort, an dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin", sagt Billiot. "Aber wir können nichts dagegen tun".
Flutendes Salzwasser zerstört die Insel
Die Ölindustrie hat die küstennahen Sümpfe über Jahre mit meilenweiten Kanälen durchzogen. Darüber eintretendes Salzwasser setzte der Natur stark zu.
"Wenn das Salzwasser in die Bucht gelangt, tötet es die Pflanzen und Bäume. Die Wurzeln können die Erde nicht länger halten, deswegen kommt es zur Abtragung der Küste", erklärt Kristina Peterson. Die Wissenschaftlerin des Lowlander Centers unterstützt die Inselbewohner seit Jahren.
Ohne Wälder sind die Inseln den Erosionen und immer wieder auftretenden Stürmen schutzlos ausgeliefert. Der Klimawandel versetzt der Insel nun den Todesstoß. Denn durch die Erderwärmung dehnt sich auch der Golf von Mexiko weiter aus, das Meerwasser steigt an und überflutet die Inselgruppen der Sumpfgebiete in Louisiana.
Wenceslaus Billiot konnte beobachten, wie sich die Isle de Jean Charles veränderte. "In meiner Kindheit war die Insel viel größer als jetzt. Es gab viele Bäume, jetzt ist die Insel nur noch ein schmaler Streifen. Wir hatten Kühe und Rinder, haben Mais, Reis und sämtliche Bohnensorten angebaut. Das alles kann jetzt nicht mehr wachsen", sagt er. Mehrmals haben die Bewohner versucht, wieder Pflanzen anzubauen oder Zypressen zu pflanzen, um der Küste neuen Halt zu geben. Doch das Salzwasser vernichtete jeglichen Versuch.
Kräftige Stürme, steigender Meeresspiegel
Viele Bewohner haben ihr Leben auf der Insel bereits aufgegeben. Auch Wenceslaus Billiot verließ die Insel 1985 mit seiner Familie, nachdem ein Hurrikan ihr Haus zerstört hatte. Sie leben nun im rund 40 Kilometer entfernten Houma. "Wir wollten es nicht aufbauen, bloß um es beim nächsten Sturm wieder zu verlieren", sagt er. Seine Tochter Chantel Comardelle war damals vier Jahre alt, aufgewachsen ist sie auf dem Festland. Trotzdem besucht sie die Insel noch häufig.
Ihre Großeltern leben noch immer im Elternhaus ihres Vaters. Sie möchten so lange bleiben wie möglich, erzählt Billiot. Doch die Reise zu den Verwandten wird immer schwieriger.
"Vor ein paar Tagen wollten wir mit den Auto dorthin fahren, aber die Straße zur Insel war komplett überflutet", erzählt Comardelle. Die zweispurige und etwa zwei Meilen lange Island Road ist die einzige Straße, die zur Insel führt. Das Meerwasser grenzt direkt an ihre Ränder.
Von der Isle de Jean Charles bis zu den nächsten Städten Houma oder Point aux Chenes auf dem Festland sind es rund 20 bis 40 Minuten Autofahrt. Eine Strecke, die die Bewohner täglich zur Schule, Kirche oder zu Lebensmittelmärkten zurücklegen müssen - wenn die Straße nicht überflutet ist. 2011 reparierte der Staat von Louisiana die Straße und baute Dämme an die Seiten. Hilfe, die für Billiot nicht genug ist. "Der Staat will kein Geld investieren, um die Insel zu retten. Außerdem hätten sie damit schon vor Jahren beginnen müssen", sagt er.
Bewohner umsiedeln und den Stamm wieder vereinen
Die einzige Lösung für die Bewohner von Isle de Jean Charles ist eine Umsiedlung. Zusammen mit dem Lowlander Center haben sie in den vergangenen Jahren einen Bauplan entwickelt. Im Norden von Houma sollen die Bewohner eine Fläche von rund 500 Hektar Land bekommen. Platz genug für etwa 100 Familien. Dort sollen sowohl die übrigen als auch die früheren Inselbewohner, die seit ihrer Flucht im Land verteilt wohnen, eine neue Heimat finden.
Es ist ein Projekt, das nicht nur das Überleben der Bewohner, sondern auch das ihrer Stammeskultur sichern soll. Im Januar versprach der Staat von Louisiana den Projektleitern rund 50 Millionen Dollar. Start der Umsiedlung ist im Jahr 2022. Wenceslaus Billiot dauert das zu lange. Mitte Mai treffen sich seine Stammesführer mit Verantwortlichen der amerikanischen Regierung im Weißen Haus in Washington D.C., um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. "Es macht uns Angst, wir sorgen uns um unsere Familie und kämpfen um Unterstützung. Der Staat könnte besser mit uns zusammenarbeiten, sie arbeiten zu langsam", sagt Comardelle.
Klimavertrag zu spät für viele Regionen
Der neue Klimavertrag, den auch die Vereinigten Staaten Ende April in New York unterzeichnet haben, kommt für die Isle de Jean Charles zu spät. "Es gibt Orte auf der Welt, die nicht gerettet werden können, die trotz der neuen Verträge Opfer des Klimawandels werden", sagt Kristina Peterson. "Damit müssen wir leben - das Einzige was wir tun können, ist, die Gemeinden wieder aufzubauen".
Wenceslaus Billiot hofft, dass das Schicksal der Isle de Jean Charles-Bewohner genug Aufmerksamkeit erregt, um künftig andere gefährdete Gebiete und deren Bewohner rechtzeitig zu bewahren.