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Radelnde Langnasen

Kristina Reiss10. September 2007

Wer sich als Westler in Schanghai aufs Fahrrad schwingt, wird bestaunt. Und zuweilen nicht für ganz voll genommen.

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Schanghais Verkehr ist chaotisch. Autobahnen, die sich in mehreren Etagen durch die Stadt winden - so hoch, dass man vom Auto aus mühelos in den zehnten Stock mancher Wolkenkratzer hineinschauen könnte, wären diese nicht verspiegelt. Halsbrecherische Autofahrer, Fahrräder und Mopeds aus sämtlichen Richtungen. Während der Rushhour geht an den zahlreichen Nadelöhren der Stadt nichts mehr. Darüber kann man sich aufregen, weil man wieder viel länger als geplant von A nach B braucht. Oder man kauft sich ein Fahrrad und stürzt sich mitten hinein. Ich habe mich für Letzteres entschieden.

Was viele irritiert. Die Chinesischlehrerin: "Ein Fahrrad? Du? Weshalb denn das?" Ein englischer Kollege: "Taxi fahren ist doch hier so billig." Ein anderer: "Habt ihr keinen Fahrer?"

Unzählige grinsende Gesichter


Wer es sich irgendwie leisten kann, strampelt in Schanghai nicht selbst. Man fährt vielleicht Fahrrad mit Elektromotor oder Roller. Noch besser aber Bus, Metro oder Taxi (in dieser Reihenfolge). Der große Traum aller Chinesen ist aber das eigene Auto. Wer sich eines leisten kann, hat es geschafft. Das Fahrrad hingegen steht ganz am anderen Ende der Skala. Nur ganz selten sieht man eine "Langnase" auf dem Drahtesel. Dementsprechend überrascht sind die anderen Verkehrsteilnehmer, wenn sich ein Westler aufs Rad wagt.

Meine Bilanz nach der ersten Woche: Zwei Beinahekollisionen zweier Radler, die vor lauter ungläubigem Staunen die entgegenkommenden Autos übersahen. Ein verpasster Bus (der junge Mann war so überrascht über meinen Anblick, dass er vergaß, einzusteigen) und unzählige grinsende Gesichter.

Fahrradfahren peinlich

Weniger zuträglich war mein Radeln für die Wohnungssuche. Die Maklerin, vor deren Augen ich vom Rad stieg, meinte mit leicht pikiertem Unterton: "Oh, Sie haben ein Fahrrad." Tatsächlich klang es eher nach: "Oh, jetzt sind Sie wohl völlig verrückt geworden." Die Wohnung, die wirklich sehr schön war, haben wir dann nicht bekommen. Ganz überraschend war diese doch schon anderweitig vermietet.

Ein Schweizer Geschäftsmann in Schanghai, der jeden Tag ins Büro radelt, erzählte mir einmal, dass seine Sekretärin aus diesem Grund gekündigt hätte: Ihr war es schlicht zu peinlich, dass sie für jemanden arbeitet, der freiwillig mit dem Fahrrad fährt.

Ein Gefühl von Heimat

Trotzdem: Für Schanghai ist es das Fortbewegungsmittel schlechthin. Seit ich durch die Stadt radle, fühle ich mich schon viel heimischer. Denn nichts schürt das Zusammengehörigkeitsgefühl besser, als wenn man im Pulk von zwanzig Radlern eine zwölfspurige Kreuzung überquert.

Außerdem kann man dabei endlich einmal das tun, wovon man schon lange geträumt hat: Fußgänger penetrant vom Gehweg klingeln (das Prinzip "der Stärkere gewinnt" gilt auch hier), bei Rot entgegen der Fahrtrichtung über Ampeln fahren (mit Blick auf den Verkehr, versteht sich), unkonventionell links abbiegen. Allerdings braucht es dazu eine gewisse Übung beziehungsweise eine gewisse Eingewöhnung an den chaotischen Fahrstil der Mitradler.

Das wichtigste jedoch ist, dass man ein funktionstüchtiges Fahrrad besitzt. Die Bremsen mögen noch vernachlässigbar sein, die Klingel jedoch ist es definitiv nicht. Schließlich braucht man diese mindestens zehnmal so häufig.