Depressionen auf dem Vormarsch
2. September 2013"Wenn sich in meinem Leben nicht bald etwas ändert, werde ich den Iran verlassen", sagt der Student Kaweh aus Teheran: "Auch wenn wir jetzt einen neuen Präsidenten haben, auf den viele ihre Hoffnungen setzen - für meine Zukunft hier sehe ich eher schwarz." Der 23-Jährige leidet nach eigenen Angaben unter starken Depressionen: "Damit bin ich aber nicht allein. Ich selbst kenne viele, die darunter leiden, schichten- und altersübergreifend. Ich glaube, manche wissen noch nicht einmal, dass sie ein Problem haben."
Wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind, ist schwer feststellbar. Die Zahlen und Angaben variieren. Glaubt man dem ehemaligen Mitarbeiter des iranischen Gesundheitsministeriums, Ali Akbar Sayari, der den iranischen Reformkräften nahesteht, steigt die Zahl derer von Jahr zu Jahr, die unter seelischen Problemen leiden. Gegenüber der halbamtlichen Nachrichtenagentur "Mehr" spricht er von etwa 40 Prozent der Iraner, die zur Zeit psychisch erkrankt seien.
Andere offizielle Zahlen liegen etwas niedriger: Unter dem kürzlich aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad ließ das Gesundheitsministerium verlauten, der Anteil der Iraner, die psychische Leiden aufweisen, sei innerhalb weniger Jahre von 19 auf 23 Prozent gestiegen. "Mehr als die Hälfte der psychischen Erkrankungen hat gesellschaftliche Gründe wie Armut und Chancenungleichheit", sagt die ehemalige Gesundheitsministerin im Kabinett Ahmadinedschads, Marzieh Dastjerdi, gegenüber der Nachrichtenagentur "Ilna". Betroffen seien vor allem junge Menschen.
Politischer und gesellschaftlicher Druck
Doch die Tatsache, dass die iranische Politik auf dieses Problem aufmerksam geworden ist, bedeutet nicht, dass sie auch eine Lösung dafür parat hat. Tatsächlich sei das System der Islamischen Republik mitverantwortlich für die schlechte seelische Verfassung vieler Iraner, meinen Fachleute. Bereits in den Schulen werde der Grundstein für spätere seelische Schäden gelegt, sagt die iranische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Mojgan Kahen gegenüber der Deutschen Welle. "In den Schulen des Iran wird die menschliche Sexualität als ein mit Sünde behaftetes Thema behandelt. Das Resultat ist, dass viele ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Sexualität haben. Das beeinflusst natürlich auch das Verhältnis zwischen Frauen und Männern negativ."
Das ganze politisch-gesellschaftliche System übe Druck auf die Jugendlichen des Landes aus, meint die Therapeutin Kahen. Beispiele gibt es genug: Das Recht auf freie Meinungsäußerung im Iran ist stark eingeschränkt. Immer wieder werden Andersdenkende laut internationalen Menschenrechtsorganisationen willkürlich verhaftet. Die islamische Religionspolizei kontrolliert die Einhaltung des Kopftuchzwangs für Frauen. Öffentliche Veranstaltungen, Discos und Partys sind verboten. Auch das Zusammenleben junger Paare ohne Trauschein steht unter Strafe. "Die Jugendlichen müssen ihre Bedürfnisse mit allen Mitteln unterdrücken", so Kahen. "Das kann ein wesentlicher Grund für Depressionen sein."
Zwang zum Doppelleben
Viele junge Iraner sind über Satellitenfernsehen und Internet bestens über das Leben ihrer Altersgenossen in anderen Teilen der Welt informiert. Der iranische Psychologe und Familientherapeut Reza Kazemzadeh glaubt, dass die Diskrepanz zwischen den traditionell-moralischen Werten der Gesellschaft und der modernen Lebenseinstellung gerade die jüngere Generation besonders belastet. Sie können sich nicht so verhalten wie ihre Altersgenossen, weil sie Sanktionen fürchten müssen. "Die ständigen Ängste zwingen die Menschen zur Selbstzensur. Dieser Zwang zur Heimlichtuerei ist eine Belastung für das Seelenleben der Menschen", sagt Kazemzadeh gegenüber der Deutschen Welle.
Tatsächlich sehen sich viele Iraner aufgrund dieses Drucks gezwungen, ein Doppelleben zu führen. "Alles, wonach wir uns sehnen, müssen wir heimlich in unseren eigenen vier Wänden machen", so der Student Kaweh. "Was tut aber einer, der in einem konservativen Haushalt wohnt und nicht ausziehen kann?"
"Ich wollte nicht als verrückt gelten"
Hinzu kommt die schlechte wirtschaftliche Situation im Iran. "Wenn der sowieso vorhandene gesellschaftlich-politische Druck dann auch noch von wirtschaftlichen Problemen begleitet wird, bleibt die Psyche nur schwer verschont", sagt Therapeut Kazemzadeh. Weil schlichtweg die finanziellen Mittel fehlen, verzichten viele Erkrankte auf eine Psychotherapie.
Außerdem seien Depressionen für viele Iraner ohnehin ein Tabuthema. Die Krankheit werde daher nicht ernst genommen und häufig gar nicht erst diagnostiziert. Viele schämen sich, einen Therapeuten aufzusuchen. "Auch für mich war es schwer", sagt Kaweh. "Ich wollte in meinem Umkreis nicht als verrückt gelten."
Iranische Psychologen sind sich sicher: Solange sich das politische System mit seinen traditionell-konservativen Werten in das Privatleben der Menschen im Gottesstaat einmischt, Druck ausübt und mit Sanktionen droht, wird die Zahl der Depressionen weiter wachsen und eine Behandlung durch Therapeuten nur schwer von Erfolg gekrönt sein.