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Inzest bleibt strafbar

12. April 2012

Leibliche Geschwister dürfen weiterhin keine sexuellen Beziehungen haben: Das deutsche Inzestverbot verstößt nicht gegen die Menschenrechte, urteilt der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg.

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Das Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg (Foto: dpa)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in StraßburgBild: picture-alliance/dpa

Das deutsche Inzestverbot für Geschwister stelle keinen Verstoß gegen das Grundrecht auf den Schutz des Familienlebens dar, heißt es in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die sieben Richter einer kleinen Kammer des Gerichts wiesen einstimmig die Beschwerde des 36 Jahre alten Patrick S. aus Leipzig ab, der in Deutschland wegen sexueller Beziehungen mit seiner leiblichen Schwester Susan zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Der Kläger war in einer Adoptivfamilie aufgewachsen und hatte seine leibliche Schwester, von deren Existenz er nichts gewusst hatte, erst mit 24 Jahren kennengelernt. Das Paar bekam zusammen vier Kinder, von denen zwei behindert sind.

Der Kläger hatte der deutschen Justiz unter anderem vorgeworfen, seine Familie zerstört zu haben: So sei sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden, das in Artikel 8 der Menschenrechtskonvention verankert ist. Aus der Haft, die er im Juni 2008 antrat, wurde Patrick S. Mitte 2009 entlassen. Seit geraumer Zeit lebt er getrennt von der Schwester, drei seiner Kinder sind in Pflegefamilien, das vierte ist bei der Mutter. Zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht 2008 die Verurteilung des Mannes zu einer Gefängnisstrafe bestätigt und seine Verfassungsbeschwerde verworfen.

Das Geschwisterpaar Patrick und Susan aus Leipzig (Foto: dpa)
Das Geschwisterpaar Patrick und Susan aus LeipzigBild: picture-alliance/dpa

Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen

Die Straßburger Richter mussten sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzen, ob das auch für erwachsene Geschwister geltende deutsche Inzestverbot gegen das Recht auf Schutz des Privatlebens verstößt. Sex zwischen Geschwistern ist in Deutschland nicht nur ein moralisches Tabu, sondern auch eine Straftat, die mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren geahndet werden kann. Allerdings sei das Geschwisterpaar nicht zusammen aufgewachsen, argumentiert der langjährige Anwalt des Klägers, Endrik Wilhelm: Man könne doch "zwei Menschen, die sich im Erwachsenenalter ineinander verliebt haben, schlechterdings nicht verbieten, diese Liebe auch auszuleben".

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich in seinem Urteil ebenfalls auf den Schutz der Familie berufen - allerdings unter anderen Vorzeichen als der Kläger. Bei Inzestverbindungen könne es zu "schwerwiegenden familien- und sozialschädlichen Wirkungen" kommen, etwa durch eine Überschneidung von Verwandtschaftsverhältnissen. Außerdem sei die Gefahr von Erbschäden bei Kindern besonders groß. Das Inzestverbot sei deshalb zur "Bewahrung der familiären Ordnung" ebenso notwendig, wie zum Schutz der "Gesundheit der Bevölkerung", argumentierten die Karlsruher Richter.

Welche Paare dürfen Kinder zeugen - und welche nicht?

Allerdings hatte der Vorsitzende Richter des Zweiten Senats des Verfassungsgerichts, Winfried Hassemer, mit einem Sondervotum für Aufsehen gesorgt: Er verwies auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und sagte, es spreche viel dafür, dass die Bestimmung "lediglich Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut" im Auge habe. Geschlechtsverkehr sei selbst dann nicht strafbar, wenn "die Wahrscheinlichkeit behinderten Nachwuchses höher ist und die erwartbaren Behinderungen massiver sind als beim Inzest".

Auch Rechtsanwalt Wilhelm betont, dass man dann "auch Frauen über 40 Jahren oder behinderten Menschen untereinander verbieten müsste, sich zu vermehren".

Der EGMR hat in seinem Urteil nicht nur Deutschland im Blick: In dieser Frage gebe es in den 47 Mitgliedsländern des Europarats keinen Konsens, stellen die Straßburger Richter fest. Sie bescheinigen den deutschen Gerichten eine "sorgfältige Abwägung der Argumente". Das Straßburger Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Binnen drei Monaten kann der Beschwerdeführer Rechtsmittel einreichen.

rb/nis (afp, dapd, dpa)