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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel2. August 2002

Aufregung um Bonusmeilen / Stillstand in deutsch-französischen Beziehungen

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In den Leitartikeln der europäischen Tagespresse fanden in dieser Woche zwei deutsche Themen Beachtung: das deutsch-französische Gipfeltreffen in Schwerin und die so genannte Flugmeilen-Affäre.

Eine Folge dieser Affäre war der Rücktritt des Berliner Wirtschaftssenators Gregor Gysi von der PDS, über den in der konservativen österreichischen Tageszeitung DIE PRESSE zu lesen war:

"Es sind meist die 'nichtigen' Anlässe, die Politiker zum Absturz bringen; Beträge, die vergleichsweise läppisch sind; aber eben jene, mit denen sich jeder Wähler irgendwie identifizieren kann. Da jedoch Politiker wie Rudolf Scharping oder jetzt Gregor Gysi nicht erst vor kurzem auf die politische Bühne gesprungen sind, müssten sie doch dieses Grundgesetz der Politik kennen. Gysi zum Beispiel hat jeden schweren Vorwurf, Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes gewesen zu sein, politisch überstanden - und trat jetzt wegen Bonusmeilen zurück. Als PDS-Star war Gysi vielleicht vieles, aber sicher kein Dummkopf. Mit seinem blitzartigen Rücktritt wollte er es sich vielleicht ersparen, als Dummkopf dazustehen."

Die Mailänder Tageszeitung CORRIERE DELLA SERRA stellte fest:

"Er hatte den Fall der Berliner Mauer politisch überlebt, aber das Freiflug-Programm der Lufthansa ist ihm zum Verhängnis geworden. (...) Nach dem Grünen Cem Özdemir ist Gysi der zweite deutsche Politiker, der in dem Freiflug-Skandal versinkt. (...) Der Abtritt des einzigen Medienstars in den Reihen der Erben Honeckers bedroht nicht nur die Stabilität der Koalition im Berliner Senat (...) sondern schadet auch der PDS bei den Bundestagswahlen im September."

Mit den möglichen Auswirkungen des Rücktritts befasste sich die schweizerische BASLER ZEITUNG:

"Verpasst die PDS den Einzug ins Parlament, kommen nur noch vier Gruppierungen für der Regierungsbildung in Frage: SPD und Grüne auf der einen Seite, CDU/CSU und FDP auf der anderen Seite. Nach den bisherigen Umfragen ist es durchaus denkbar, dass weder eine rot-grüne noch eine christlich-liberale Koalition eine absolute Mehrheit der Mandate erreicht, falls die PDS ins Parlament kommt. Schafft sie es nicht, dürfte eines der beiden Lager klar obenauf schwingen und kann mit Gerhard Schröder (SPD) oder Edmund Stoiber (CSU) den Kanzler stellen. Der Rücktritt Gregor Gysis könnte also sogar die Wahl entscheiden. Tut er es am Ende nicht, ist er in jedem Fall ein Debakel für die PDS: Die Ostpartei ist jetzt, wie die Grünen, in der Affärenrepublik angekommen."

In Berlin herrsche ein 'Klima der Inquisition' schrieb der Kommentator der linksliberalen französischen Tageszeitung LIBÉRATION und meinte:

"Das Problem besteht vor allem darin, dass in der derzeitigen Aufregung alle Affären miteinander vermengt werden, die großen wie die kleinen. Besessen von den Bonusmeilen der Abgeordneten, spricht Deutschland schon nicht mehr von dem Fall Scharping, obwohl dieser doch weitaus dramatischer war. In dem Rhythmus, in dem Deutschland gegenwärtig seine Politiker zur Strecke bringt, kann man tatsächlich darauf hoffen, bald ein sauberes und transparentes Parlament vorzufinden - eines, das dann aber auch von einigen seiner größten politischen Talente gesäubert sein wird."

Themenwechsel: Nach den 79. deutsch-französischen Konsultationen in Schwerin kritisierte die französische Regionalzeitung SUD-OUEST aus Rennes:

"Die deutsch-französischen Gipfel, die einst konstruktiv waren, sind mühsam und eintönig geworden. Von der deutschen Wiedervereinigung hat sich das Paar ebensowenig erholt wie vom Verschwinden Kohls und Mitterrands. Seither wird Flickschusterei betrieben. Immer neue Zauberformeln werden in die Welt gesetzt, um den Eindruck zu erwecken, der deutsch-französische Motor komme wieder in Gang."

Etwas positiver beurteilte die spanische Zeitung LA VANGUARDIA aus Barcelona das Ergebnis des Treffens:

"Beim Gipfeltreffen in Schwerin herrschte eine Atmosphäre der Bewegungslosigkeit, die schon seit über einem Jahr die Beziehungen zwischen Paris und Berlin prägt. Beide Staaten einigten sich immerhin darauf, ihre Differenzen bis Dezember zu überwinden. Dies ist eine gute Nachricht für Europa."

Die belgische Tageszeitung DE STANDAARD ging auf den derzeit schwierigsten Streitpunkt zwischen beiden Ländern ein:

"Die Zahlen zeigen wie viel auf dem Spiel steht. Die Europäische Gemeinsame Agrarpolitik verschlingt 40 Milliarden Euro, die Hälfte des europäischen Haushalts. Davon geht ein Viertel nach Frankreich. Wer immer nach dem 22. September in Deutschland Bundeskanzler wird, Schröder oder der Christdemokrat Edmund Stoiber, er wird nicht zu Gunsten Frankreichs auf eine durchgreifende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik verzichten können. Das lässt den beiden Ländern wenig Zeit, den von der ganzen Union erwarteten Kompromiss auszuknobeln, wie optimistisch Schröder und Chirac sich auch äußerten."

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG zog schließlich folgendes Fazit:

"Als der eigentliche Erfolg des Schweriner Gipfels kann betrachtet werden, dass unabhängig vom Inhalt möglicher Kompromisse in den zwischen Deutschland und Frankreich strittigen Fragen des Agrarmarktes, der finanziellen Lasten für die Nettozahler, der EU-Erweiterung, der Vertiefung der Integration und des europäischen Verfassungskonvents ein deutsch-französischer Zeitplan aufgestellt wurde. Schröder und Chirac einigten sich darauf, in speziellen Arbeitsgruppen in den kommenden vier Monaten bis zum EU-Gipfeltreffen von Kopenhagen im Dezember gemeinsame deutsch-französische Positionen zu entwickeln."