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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel und Beatrice Hyder27. November 2005

Merkels Wahl zur Kanzlerin und ihre erste Auslandsreise

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Große Beachtung in der europäischen Tagespresse fand in dieser Woche die Wahl Angela Merkels zur ersten Bundeskanzlerin Deutschlands. Dass sie ein schweres Amt übernommen hat, darin waren sich alle Kommentatoren einig; aber die Frage, ob und wie sie dieses Amt meistern kann, wurde unterschiedlich beantwortet.

So stellte die französische Zeitung L'ALSACE aus Mülhausen fest:

"Ihr persönlicher Stil, weniger theatralisch und weniger geschwollen als der vieler männlicher Politiker, kann sich als Trumpf erweisen, auch bei den Jugendlichen. (...) Die Bundeskanzlerin gilt außerdem als hartnäckig. Und Hartnäckigkeit wird sie brauchen, um dieses Bündnis aus den beiden großen konkurrierenden Parteien Deutschlands zu führen und ihr Mandat zu einem Erfolg werden zu lassen."

Der in Rom erscheinende MESSAGERO charakterisierte die neue Kanzlerin so:

"Das Adjektiv, das am besten zu Merkel passt, ist vielleicht 'leise'. Aber das Wort klingt (zufälligerweise) so ähnlich wie 'Eisen'. Angela Merkel hatte ein Ziel und hat es erreicht. Sie ist die erste Frau die das wichtigste Land Europas führt."

Der britische DAILY TELEGRAPH aus London meinte:

"Sie mag nicht so medienwirksam sein wie ihr Vorgänger, aber sie hat zweifellos eine klare Vorstellung davon, was gebraucht wird, um Deutschlands Wirtschaft in Ordnung zu bringen."

Skeptischer urteilte die Wiener Tageszeitung STANDARD:

"Der mühsame Wahlkampf, der knappe Wahlsieg, die schwierigen Koalitionsverhandlungen, jetzt das durchschnittliche Wahlergebnis - über dem Beginn von Merkels Kanzlerschaft schwebt vor allem ein Begriff: Mittelmaß. (...) Aber vielleicht sind diese niedrigen Erwartungen nicht die schlechteste Ausgangsposition für Merkel. (...) Wer weiß, möglicherweise heißt es in ein paar Monaten in Berlin erneut: Seht an, wir haben sie wieder unterschätzt."

Skeptisch auch die russische Tageszeitung NESAWISSIMAJA GASETA aus Moskau:

"Die Probleme, vor denen ihre Regierung steht, sind sehr groß: die Massenarbeitslosigkeit, die schwächelnde Wirtschaft, das riesige Haushaltsdefizit. Deshalb wird Streit im Kabinett unvermeidlich sein. Kann die Bundeskanzlerin verhindern, dass er sich zu ernsthaften Konflikten auswächst?"

Zum Schluss die spanische Tageszeitung EL MUNDO aus Madrid, die Merkels Vorgänger mit folgenden Worten Beachtung schenkte:

"Der große Verlierer Gerhard Schröder war der erste, der sich erhob und Angela Merkel zur Wahl gratulierte. Damit bewies er Größe und Weitblick. Obwohl er bei der Bundestagswahl nicht so schlecht abgeschnitten hatte, zog er es vor, sein Abgeordnetenmandat abzugeben und den Weg zu einer Wachablösung freizumachen. Damit gab Schröder ein Beispiel, wie man es nur selten sieht."

Ob Merkel die Außenpolitik ihres Vorgängers fortsetzt? - eine wichtige Frage für die ausländische Presse. Anlass zur Antwort gab die erste Auslandsreise direkt nach ihrer Wahl. Besonderes Augenmerk galt dabei dem deutsch-französischen Verhältnis.

Die Regionalzeitung NORD ECLAIR schreibt:

"Es gibt Gesten und Symbole, die stärker sind als Worte. Dass die erste Kanzlerin der deutschen Geschichte einen Tag nach ihrer Wahl im Bundestag nach Paris gekommen ist, ist zweifellos von besonderer Bedeutung. (Ihre) Botschaft (war) klar: Sie hat die gleichen Prioritäten wie alle ihre Vorgänger seit Konrad Adenauer: eine Zukunft Deutschlands im Rahmen einer friedlichen und demokratischen Union der europäischen Völker."

Auch die Regionalzeitung LA LIBERTÉ DE L'EST zeigt sich zufrieden:

"Die französische Diplomatie hätte jede andere erste Station der Auslandsbesuche von Angela Merkel als Kränkung empfunden. Madame Merkel hat also Frankreich geschont und pflegt gleichzeitig die Beziehung zu Washington. Das erfordert viel Geschick. Frankreich ist jedoch beruhigt."

Die Zeitung LE MONDE fragt: "Können Paris und Berlin die Europapolitik wieder in Gang bringen". Das Blatt fährt fort:

"Kurzfristig erscheint dies unwahrscheinlich. Merkel hat zwar in internationalen Angelegenheiten ihr Territorium abgegrenzt, doch das Management ihrer großen Koalition könnte sie voll in Anspruch nehmen. In Frankreich lässt der Vor-Wahlkampf für die Präsidentenwahl 2007 kaum Platz für eine besondere EU-Initiative. Wohlweislich hat die neue Kanzlerin in Brüssel die Frage der EU-Verfassung auf die Zeit des deutschen EU-Vorsitzes 2007 verschoben."

DER STANDARD aus Österreich macht nach Merkels erster Auslandsreise eine gewisse Kontinuität in der Außenpolitik aus:

"Die deutsch-französische Achse funktioniert genauso gut (oder schlecht) wie vorher auch. In der Türkeifrage hat sich die Tonart geändert. Auf dem Papier gilt im Wesentlichen weiter das, was vergangenen Dezember beim Europäischen Rat in Brüssel beschlossen worden ist, nämlich Beitrittsverhandlungen mit Ankara. Und außerdem ist der deutsche Staat noch immer so finanzmarod, dass er sich im
eigenen Land keinerlei große Sprünge leisten kann - und schon gar nicht in Brüssel."

Die russische Zeitung NESAWISSIMAJA GASETA sieht eine positive Startposition für Merkel in der Außenpolitik:

"Der Beginn ihrer Kanzlerschaft steht auf dem festen Fundament einer breiten parlamentarischen Mehrheit. Also muss sie im Parlament keine Niederlagen fürchten, wie sie Tony Blair unlängst erleiden musste und wie sie George W. Bush im Senat drohen. In Frankreich und Italien stehen Wahlen mit ungewissem Ausgang an. Dem Herrn des Weißen Hauses drohen Unannehmlichkeiten wegen seiner Irak-Politik."

Die britische TIMES gibt der neuen Kanzlerin den Tipp, als 'eiserne Lady' aufzutreten:

"Obwohl ihre Macht durch die schwierigen Mehrheitsverhältnisse in ihrer Koalition mit den Sozialdemokraten beschnitten sein könnte, muss sie mit der Kühnheit einer neu gewählten Kanzlerin agieren. Zögerlichkeit, Kompromisse oder der rückwärts gerichtete Blick auf Rivalen würde nur den Eindruck einer befangenen - und zeitlich befristeten - Führungsrolle verstärken."