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Fußballeuphorie: Wenn Gesetze Nebensache werden

Rahel Klein22. Juni 2016

Höhere Mehrwertsteuer und Krankenkassenbeiträge, verschärftes Meldegesetz: Immer wieder wurden in der Vergangenheit im Schatten von Fußballturnieren umstrittene Gesetze verabschiedet. Zufall oder politisches Kalkül?

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Angela Merkel und Joachim Gauck jubeln im Fußballstadion bei der WM 2014 (Foto: imago/Action Pictures)
Bild: imago/Action Pictures

Deutschland ist im Freudentaumel. "La Mannschaft" holt sich den Gruppensieg in der Vorrunde, steht im Achtelfinale der Fußball-EM und alle fiebern den nächsten Spielen entgegen. Da können politische Entscheidungen schon mal in den Hintergrund geraten.

Am Freitag will der Bundestag abschließend über das umstrittene Fracking-Gesetz abstimmen. Nach einem Jahr Streit in der großen Koalition, geht es jetzt ziemlich schnell. Die Grünen-Energiepolitikern Julia Verlinden kritisierte, die große Koalition wolle das Gesetz "im Windschatten von Brexit-Abstimmung und Fußball-EM" beschließen.

Dass umstrittene Gesetze während sportlicher Großveranstaltungen verabschiedet werden, hat in Deutschland fast schon Tradition.

WM 2006: Ein Sommermärchen mit Mehrwertsteuererhöhung

Es ist ein Fußballsommer, der als Märchen in die Geschichte eingehen soll. Im Jahr 2006 ist Deutschland Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft, das ganze Land ist wie im Rausch. Die Mannschaft unter Jürgen Klinsmann schlägt Polen am 14. Juni mit 1:0, am 20. Juni folgt ein 3:0 gegen Costa Rica. Die Nationalelf gewinnt alle Vorrundenspiele.

Irgendwo dazwischen, am 16. Juni, gibt der Bundesrat grünes Licht für die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent. Ab Januar 2007. Es ist die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Fußballfans mit Deutschlandfahne jubeln bei der WM 2006 (Foto: picture-alliance/dpa)
Millionen von Fans fieberten bei der WM im eigenen Land mitBild: picture-alliance/dpa

WM 2010: Krankenkassenbeitrag soll steigen

Fußball-WM in Südafrika. "'54, '74, '90, 2010, ja so stimmen wir alle ein. Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Weltmeister sein." - bis zum Halbfinale singen deutsche Fans das "Sportfreunde-Stiller"-Lied. Die Fußballnation ist optimistisch. Dann kommt der 7. Juli.

Die deutsche Nationalmannschaft scheidet in einem bitteren 1:0 gegen den späteren Weltmeister Spanien kurz vor dem Finale aus. Einen Tag vor der Niederlage verständigt sich der Bundestag auf ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Gesundheitspolitik. Infolgedessen steigt der Beitragssatz für die gesetzlichen Krankenkassen von 14,9 auf 15,5 Prozent.

EM 2012: Umstrittenes Meldegesetz in 57 Sekunden

Knapp 28 Millionen Zuschauer verfolgen am 28. Juni 2012 vor den Bildschirmen, wie Deutschland im EM-Halbfinale gegen Italien kämpft und schließlich ausscheidet. Im Bundestag haben sich derweil ganze 26 Abgeordnete versammelt - von insgesamt 620. Tagesordnungspunkt 21: ein Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Meldewesens. Die Reden werden nur zu Protokoll gegeben, nicht vorgetragen.

Innerhalb von 57 Sekunden beschließt der Bundestag dann ein Gesetz, nach dem Ämter die persönlichen Daten der Bürger an Firmen weitergeben dürfen - sofern die Betroffenen vorher nicht ausdrücklich widersprochen haben. Eine schwere Beschneidung der Bürgerrechte.

Wenige Abgeordnete stimmen im Bundestag mit Handzeichen ab (Foto: Deutscher Bundestag)
Bitte melden - mit ganz wenigen Abgeordneten wurde sekundenschnell das umstrittene Meldegesetz durchgewunkenBild: picture-alliance/dpa

Der ursprüngliche Gesetzentwurf hatte eine deutlich verbraucherfreundlichere Lösung vorgesehen. Die wurde aber kurz vor der Abstimmung vom Innenausschuss geändert. "Da raste ein Gesetzentwurf durch den Bundestag wie Balotelli durch die deutsche Abwehr", hieß es später in einem Kommentar von ZDF-Moderator Claus Kleber.

Es brauchte allerdings seine Zeit, bis der Öffentlichkeit die Folgen der Abstimmung richtig klar wurden. Erst nach der EM brach eine Welle der Kritik über das durchgepeitschte Gesetz ein. Im September wurde es schließlich vom Bundesrat gekippt und neu verhandelt.

Zufall oder Kalkül?

Wegen solcher Erahrungen kommt immer wieder die Frage auf: Nutzt die Politik sportliche Highlights bewusst aus, um umstrittene Gesetze heimlich, still und leise zu verabschieden, ohne dass der euphorisierte Fußballfan es bemerkt?

Philipp Köster, Chefredakteur des Fußballmagazins "11 Freunde", sagte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk während der letzten WM: "Man könnte tatsächlich jedes Thema durchbringen, egal wann und wo. Hauptsache, es ist während eines Fußballspiels. Ich glaube, die unmöglichsten Gesetze werden da durchgebracht, einfach nur, weil Fußball läuft."

Zu diesem Vorwurf sagte Christine Lambrecht, parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, der Deutschen Welle: "Die Vorstellung, dass es in unserer Zeit möglich wäre, im Windschatten von Großveranstaltungen politisch unliebsame Entscheidungen weitgehend unbemerkt durchzubringen, verkennt die Realitäten."

Die Politikerin argumentiert: "Unsere Entscheidungen müssen immer transparent und gut begründet sein, um sich einer - zum Glück - wachsamen und kritischen Öffentlichkeit stellen zu können."

"Kein kluges Vorgehen"

Die zeitliche Überschneidung von Sport und Politik fällt trotzdem auf. Eine Erklärung dafür hat Sebastian Christ. Er ist Parlamentskorrespondent der "Huffington Post" und kennt sich mit dem politischen Alltag in Berlin bestens aus.

"Leider fallen die großen Fußballturniere meist mit dem Beginn der parlamentarischen Sommerpause zusammen", sagt Christ im DW-Gespräch. Soll heißen: Damit die Entwürfe nicht monatelang herumliegen, werden sie oft noch schnell vor der Pause verabschiedet. So entsteht nach Ansicht von Christ hin und wieder zu Unrecht der Eindruck, dass der Bundestag im Eilverfahren unliebsame Gesetze durchprügeln wolle.

Trotzdem wundert sich auch der Journalist bei manchen Abstimmungen: "Was schon auffällt, ist, dass in regelmäßigen Abständen ausgesprochen unpopuläre Gesetzesvorhaben den Bundestag passieren sollen, wenn die halbe Republik mit Fußball beschäftigt ist", sagt er: "Das ist nicht besonders klug - gerade in Zeiten, in denen die Politik an Vertrauen verliert."