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Politik

Im Schatten des IS - die Last der Kurden

28. März 2019

Nach dem Fall der letzten IS-Bastion Baghus ist die Zahl der Menschen im Lager Al-Hol im Norden Syriens auf über 70.000 angeschwollen, davon 40.000 Kinder. Wer ist für sie verantwortlich?

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Syrien Befreiung IS-Gebiete Frauen
Bild: AFP/B. Kilic

Wer bei Twitter den Hashtag #Baghouz eingibt, kann sie sehen: verstaubte, vermummte Gestalten in langen Reihen, ausgemergelt und müde. Bärtige Männer. Schwarzgewandete, vollverschleiert Frauen mit verschmutzten Kindern an den Händen, wie sie Wasser und Brot bekommen und dann auf offene Lastwagen verladen werden.

Niemand hatte damit gerechnet, wie viele IS-Anhänger aus den Zelten, Tunneln und zerbombten Gebäuden von Baghus hervorströmen würden, einem seit Monaten belagerten Gebiet von gerade mal vier Quadratkilometern am Ufer des Euphrat im Osten Syriens. Allein in der letzten Woche vor dem Ende der Kämpfe am 23. März ergaben sich über 10.000 Frauen, Kinder und Männer den kurdisch dominierten Syrisch Demokratischen Kräften, SDF, die den Kampf am Boden anführten.

Im Schatten der Siegesfeiern ist die kurdische Regionalverwaltung von der schieren Zahl der Menschen überfordert, die überprüft und versorgt werden müssen. Am deutlichsten wird das im Flüchtlingslager Al-Hol, unweit der türkischen Grenze in Nordostsyrien. Ursprünglich wurde das Lager im Jahr 2016 für Flüchtlinge aus dem Irak errichtet, mit einer Kapazität für rund 10.000 Menschen. Doch heute sind nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes mehr als 74.000 Menschen in Al-Hol untergebracht.

Die kranken Kinder des "Kalifats"

Jeweils rund 45 Prozent der Insassen stammen ursprünglich aus Syrien und dem Irak. Etwa 10 Prozent kommen aus dem Ausland, auch aus Deutschland. Al-Hol ist das größte von mehreren Lagern in der kurdischen Autonomieregion. Hier sitzen fast ausschließlich Frauen und Kinder, erklärt Misty Buswell vom International Rescue Committee, IRC. Allein die Zahl der Kinder beziffert Buswell im Gespräch mit der Deutschen Welle auf rund 40.000. Viele seien in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Von den über 140 Todesfällen auf dem Weg nach Al-Hol oder kurz nach der Ankunft im Lager seien die meisten Kinder und Babys gewesen.

Samir Elhawary bestätigt das. Die DW erreicht den stellvertretenden Leiter für die Koordination von Humanitärer Hilfe bei den Vereinten Nationen in Syrien in Damaskus. Elhawary berichtet, viele Neuankömmlinge in Al-Hol stünden unter Schock, seien unterernährt, litten unter Lungenentzündung und Durchfall. "Sie waren monatelang in einer Kriegszone", erklärt der UN-Mann. Für die rund 300 Kilometer lange Reise von Baghus nach Al-Hol seien offene Lastwagen eingesetzt worden, die normalerweise für Tiertransporte genutzt würden.

Viele der Frauen aus Baghus sind schwanger, stehen kurz vor der Geburt oder haben gerade Kinder bekommen. Der Direktor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer, berichtete nach seinem kürzlichen Besuch in Al-Hol von der Begegnung mit einer 24-jährigen Frau, die auf dem Weg ins Lager ihr Kind bekommen hatte. Als Maurer sie traf, saß sie seit 10 Stunden mit ihrem Neugeborenen auf dem Boden - ohne Wasser, Nahrung oder medizinische Hilfe. 

"Der Druck ist riesig, wir können dem kaum standhalten", bekennt auch Nabil Hassan, einer der Sprecher des Camps. In einem Interview mit dem Internet-Portal "AL-Monitor" beklagt er die mangelnde internationale Unterstützung: "Sie tun sehr wenig. Unser größtes Problem ist es, diese Leute zu ernähren."

Die Last des Sieges

Die Frustration der Kurden ist mit Händen zu greifen. Es waren vor allem ihre YPG-Truppen, die den IS in Syrien bekämpften. Jetzt fühlen sie sich mit der Last des Sieges alleine gelassen. In einer Pressemitteilung verweisen die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte, SDF, auf die 11.000 Frauen und Männer in Uniform, die im Kampf gegen die Terrormiliz gefallen seien.

Syrien Angriff auf IS Stellungen in Baghouz
Die kurdisch dominierten SDF haben beim Kampf gegen den IS 11.000 Menschen verlorenBild: Getty Images/AFP/D. Souleiman

Mit Blick auf die rund 9000 ausländischen IS-Kämpfer und ihre Familienangehörigen stellen die SDF fest: "Die kurdische Verwaltung in Nordost-Syrien hat an die internationale Gemeinschaft appelliert, ihre Verantwortung zu schultern" und ihre Staatsangehörigen zurückzuholen. Bitter heißt es weiter: "Doch unglücklicherweise gab es keine Reaktion". Als Ausweg schlagen die Kurden der internationalen Gemeinschaft nun vor, in Nordsyrien ein internationales Tribunal zur strafrechtlichen Verfolgung der IS-Terroristen einzurichten. Doch die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien ist international nicht anerkannt.

Fehlende internationale Verantwortung

Auch die deutsche Bundesregierung zieht sich auf die Feststellung zurück, Berlin habe die diplomatischen Beziehungen zu Damaskus abgebrochen und unterhalte auch keine offiziellen Beziehungen zu den Kurden. Deshalb seien Gespräche über die Rückführung deutscher IS-Anhänger nicht möglich.

Kamal Sido empört diese Haltung. Der Nahost-Experte der Gesellschaft für bedrohte Völker ist selbst Kurde aus Nordsyrien. Er hält engen Kontakt in die Region. Im Gespräch mit der DW berichtet Sido von einem Besuch im Auswärtigen Amt. Sein Anliegen: Die Bundesregierung möge doch bitte Hilfe leisten bei der Identifizierung von IS-Kämpfern in den Lagern in Nordostsyrien. Doch das Auswärtige Amt sei bei seiner Haltung geblieben, dass diese Autonomieregion nicht von Berlin anerkannt werde, deshalb könne man nichts machen.

Der Nahostexperte hält internationale Hilfe bei der Überprüfung und Trennung der Menschen in den kurdischen Lagern wie Al-Hol für überaus wichtig. Denn aus Baghus kamen nicht nur Kämpfer und IS-Anhänger lebend heraus, sondern auch einheimische Zivilisten. Außerdem hatte der IS versklavte Jesiden aus dem Irak in seine letzte Bastion verschleppt.

Syrien Baghus l Kurden starten finale Offensive gegen IS
SDF-Kämpfer mit vom IS befreiten Jesiden bei BaghusBild: Reuters/R. Said

Das Sicherheitsrisiko

Jetzt, so Kamal Sido, könne es sein, dass Täter und Opfer im gleichen Lager untergebracht seien. Er unterhält auch Kontakt zur lokalen Bevölkerung von Al-Hol. "Die sagen, das Lager ist nicht gut geschützt. Es kann sein, dass IS-Anhänger das Lager verlassen und Anschläge verüben." Tatsächlich sei Al-Hol kein Internierungslager, sagt auch eine andere Quelle, die anonym bleiben möchte. Frei hinein- und hinausgehen könne man aber auch nicht.

Dass die Sicherheitslage zumindest angespannt ist, wurde deutlich, als kürzlich ein Mob von IS-Frauen im Lager auf Sicherheitskräfte losging. Die haben sich Medienberichten zufolge lediglich durch Warnschüsse wehren können. Nach Jahren des Lebens im sogenannten "Kalifat" sind viele hochgradig radikalisiert. Sie verteidigen die IS-Ideologie und zeigen erkennbar keine Reue. Sie stellen langfristig ein Sicherheitsrisiko dar – auch, was das Anwerben neuer Rekruten betrifft.

Dennoch sei es falsch, diesen Menschen nicht zu helfen, betont Misty Buswell vom IRC. Vor allem die langfristige psychosoziale Unterstützung der Kinder sei wichtig: "Damit sie die Grausamkeiten und die Gewalt verarbeiten und sich wieder in ihre Gesellschaften integrieren können." Vor allem Bildung sei ein Schlüssel dafür, "dass sie sich Hoffnung auf ein normales Leben machen können."

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein