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"Im Nordkaukasus droht ein neuer Krieg"

7. Februar 2008

Eine weitere Zunahme der Spannungen in Inguschetien könnte zu einem bewaffneten Konflikt führen, warnt im Gespräch mit der Deutschen Welle Tatjana Lokschina von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

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Tatjana Lokschina: Lage explosivBild: DW/Sergey Morozov

DW-Russisch: Was geschieht derzeit im Nordkaukasus? Hat die Gewalt abgenommen?

Tatjana Lokschina: Seit Jahren ist die gesamte nordkaukasische Region äußerst explosiv. Das ist in großem Maße die Folge des Tschetschenien-Krieges, eines Konfliktes, der auf andere Gebiete übergriff. Heute sieht die Situation dort - von außen betrachtet - ruhiger aus, es werden weniger Morde verübt und weniger Menschen entführt.

Können Sie Zahlen zum Rückgang solcher Fälle nennen?

Wir prüfen zweifelsohne die Situation, aber was die Anzahl der Fälle betrifft, so können wir keine permanente Entführungs-Statistik führen. Wenn wir Zahlen nennen, dann orientieren wir uns an den Informationen, die vom Menschenrechtszentrum Memorial ständig gesammelt werden, das unmittelbar in der Tschetschenischen Republik über Büros verfügt. Wenn man sich deren Statistik anschaut, dann wurden im Sommer vergangenen Jahres zwei bis drei Menschen pro Monat entführt, und das ist um ein Vielfaches weniger als noch vor gut zwei Jahren. Aber man muss auch berücksichtigen, dass die Menschen heute in Tschetschenien Angst haben, dass die Machtorgane sofort davon erfahren, wenn sie darüber berichten, was mit ihren und ihren Familienangehörigen geschieht,. Sie befürchten, dass dies für sie negative Folgen haben wird. Ich selbst reise oft nach Tschetschenien, und ich sehe, dass sich die Gesprächsbereitschaft der Menschen verändert hat. Es ist ein Unterschied, wie die Menschen - Opfer von Menschenrechtsverletzungen - mit Bürgerrechtlern im Jahr 2003 und jetzt sprechen.

Herrscht heute mehr Angst?

Vielleicht ist es absurd, aber das ist Tatsache: Als geschossen wurde und Krieg geführt wurde, als die physische Gefahr viel größer war als heute im ruhigen Grosny, das wieder aufgebaut wird, da hatten die Menschen keine Angst zu reden, die Menschen haben nicht geschwiegen. Und egal wohin wir kamen, wurde uns sofort berichtet, was vor Ort passiert, wer gelitten hat, wer Hilfe braucht. Das ist heute bei weitem nicht mehr so.

Und wie sieht es in den anderen Republiken im Nordkaukasus aus, insbesondere in Inguschetien?

Eine Forschungsgruppe von Human Rights Watch reiste Ende Dezember 2007 dorthin. Wir arbeiteten dort an Fällen, die außergerichtliche Strafen betreffen, aber auch Entführungen und Folterfälle, von denen wir im Laufe des Jahres 2007 gehört hatten. Inguschetien ist heute eine Region, die für uns auf jeden Fall Priorität genießt. Die Situation in Inguschetien erinnert in großem Maße daran, was in Tschetschenien vor Beginn des Krieges geschah, also vor 1994.

Bedeutet das, dass die Situation sehr explosiv ist?

Ja. Wir haben dort gesehen, wie die Machtstrukturen in der Republik Inguschetien äußerst brutale Anti-Terror-Operationen durchführen. Beispielsweise wurde ein junger Mann, der verdächtigt wurde, ein Kämpfer zu sein oder in Verbindung zu Kämpfern zu stehen, auf dem Marktplatz von Nasrani erschossen. Auf ihn schossen bewaffnete Personen in Anwesenheit zahlreicher Zeugen. Er wurde nicht gleich getötet, sondern schwer verletzt, und als er blutete, wurde niemandem erlaubt, sich ihm zu nähern. Er starb vor den Augen der Menschen. Es ist doch klar, welche Stimmung entsteht, wenn Menschen eine solche Willkür sehen, solch brutale Sondereinsätze.

Kann sich aus Ihrer Sicht Inguschetien zu einem zweiten Tschetschenien entwickeln?

Ich gebe ungern traurige politische Prognosen ab. Aber die Situation ist gefährlich, wo die Gewalt seitens der Machtstrukturen nicht aufhört und absolute Willkür herrscht. Es droht die Zunahme von Spannungen, die einen realen bewaffneten Konflikt hervorrufen können.

Welche Kontrollmechanismen besitzen heute noch die Medien, wie steht es um die bekannte Internetseite Ingushetia.ru?

Die Situation der Internetseite ist wirklich sehr traurig. Sie ist eine Informationsquelle dafür, was in Inguschetien geschieht. Möglicherweise ist manche Meldung, die auf der Seite erscheint, nicht geprüft. Aber es besteht wenigstens irgendeine Möglichkeit, sich im Fluss der Ereignisse in Inguschetien zurechtzufinden. Man kann eigene Schlüsse ziehen und unabhängige Meinungen finden. Die Seite wird auf verschiedene Weise unterdrückt. Das Vorgehen der Staatsmacht deutet darauf hin, dass sie diese Informationsquelle unterbinden will. In Wirklichkeit ist es der einzige unabhängige Kanal, der täglich Informationen liefert. Deshalb ist klar, dass die Unterdrückung der Seite die Unterdrückung von Meinungsfreiheit bedeutet.

Das Gespräch führte Sergej Morosow, DW-Russisch