"Ich wurde entführt": Kasachstan bekämpft den Brautraub
25. Januar 2025In Kasachstan sollen die Strafen für Brautraub verschärft werden. Das Parlament arbeitet bereits an entsprechenden Gesetzesänderungen, um überkommene Traditionen auszumerzen.
Fast jede junge Frau in Kasachstan weiß, dass sie zu Heiratszwecken entführt werden könnte. In solchen Fällen würden alle ihre Zukunftspläne zunichte gemacht. Wie bei Gulmira K..
Gulmiras Leidensweg
Die Krankenschwester aus Almaty erzählt der DW, wie sie als 19-Jährige entführt wurde. "Das ist fast zwanzig Jahre her. Ich studierte in Almaty und ging abends von der Universität nach Hause. Ein Auto hielt an, drei Männer sprangen heraus, packten mich, schubsten mich auf den Rücksitz und warfen eine Decke über mich. Zwei von ihnen saßen neben mir und hielten mich fest", erzählt sie.
"Nach zwei Stunden war ich in einem Haus in einem Dorf, wo Frauen sofort ein weißes Tuch über mich legten, wie es die Tradition vorschreibt. Mir war klar, dass ich entführt worden war, um verheiratet zu werden. Ich konnte mich nicht befreien und traf kurz danach meinen künftigen Ehemann, den ich nie zuvor gesehen hatte. Noch am selben Tag nahm er mir meine Jungfräulichkeit", sagt Gulmira, die ihren Nachnamen nicht öffentlich nennen möchte.
Erst eine Woche später konnte sie ihre Eltern erreichen. Doch die erhoffte Hilfe blieb aus. "Mein Vater sagte nur, ich sei selbst für alles verantwortlich. Er bezeichnete mich als Schande für die ganze Familie und wollte mich nicht mehr sehen. So wurde ich die Frau eines Mannes, dessen Familie finanziell kaum über die Runden kam. Meine Eltern hingegen waren wohlhabend", fügt Gulmira hinzu.
Erst neun Jahre später entkam sie der Zwangsehe. "Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon zwei Kinder. In einer Klinik traf ich unerwartet eine Schulfreundin, der ich meine Geschichte erzählte. Sie riet mir, mit den Kindern einfach nach Almaty zurückzugehen, was ich dann auch tat. Später half sie mir bei der Scheidung und bei der Jobsuche. Meinem Ex-Mann war das alles egal. Wenn es damals eine strafrechtliche Verfolgung für Brautraub gegeben hätte, worüber erst jetzt diskutiert wird, dann wäre mein Leben anders verlaufen. So habe ich mein Studium nie beenden können."
Jahrelange Debatte über Strafen
Dass Entführungen zum Zwecke einer Zwangsehe strafrechtlich verfolgt werden müssten, wird in Kasachstan seit Mitte der 1990er Jahre diskutiert. Aktivisten und Menschenrechtler bemängeln seit rund 30 Jahren, dass Beteiligte an Fällen von Brautraub nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Dabei sieht Artikel 125 des Strafgesetzbuches für Entführungen eine Freiheitsstrafe von vier bis sieben Jahren vor. Wenn der Entführer die entführte Person jedoch freilässt, kann er der Justiz entgehen - auch das steht in Artikel 125. Diesem Schlupfloch schenkten die Behörden bislang kaum Beachtung und ermutigen damit Täter, die entführte Frauen nach ihrer Zwangsverheiratung nur scheinbar freilassen.
Erste Hoffnungen, die rechtliche Lage könnte sich ändern, kamen im August 2023 auf. Der Menschenrechtsbeauftragte des kasachischen Präsidenten, Artur Lastajew, kündigte damals einen von seinem Büro erarbeiteten Gesetzentwurf an, um Brautraub unter Strafe zu stellen. "Wir haben die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, eine gesonderte Liste von Straftaten zu erstellen, damit diese nicht nur unter Artikel 125 fallen. Der Entwurf basiert auf Erfahrungen unserer Nachbarländer und Empfehlungen der Vereinten Nationen", betonte der Ombudsmann vor Journalisten in der Hauptstadt Astana.
Trotz einer Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft, diese Initiative zu unterstützen, passierte jedoch nichts. Sechs Monate später musste der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew eingreifen. "Es gibt in unserem Land Leute, die unter dem Deckmantel angeblich nationaler Traditionen versuchen, Brautraub durchzusetzen. Dies kann in keiner Weise gerechtfertigt werden und widerspricht den Idealen einer fortschrittlichen Gesellschaft, in der die Würde, Rechte und Freiheiten jedes Menschen absolute Werte sind", erklärte Tokajew.
"Brautraub war niemals eine echte Tradition"
Ohne diese Erklärung des Präsidenten wäre es fast unmöglich gewesen, dieses Thema erneut landesweit auf die Tagesordnung zu setzen, sagt der Abgeordnete des Unterhauses der regierenden Amanat-Partei, Murat Abenow, im DW-Gespräch. "Es gibt in unseren Strafverfolgungsbehörden sicherlich viele Menschen, die diese entstellte Tradition tolerieren", so der Parlamentarier, der seit vielen Jahren härtere Strafen für Brautraub fordert.
Zugleich stellt er fest, dass es den Brautraub in seiner heutigen Auslegung, wie sie vor allem im Süden und Westen des Landes verbreitet ist und vereinzelt auch in Astana und Almaty vorkommt, unter den Kasachen früher nie gegeben habe. "Im Mittelalter war die Entführung von Frauen nur während militärischer Operationen erlaubt, als Trophäe. Die Entführung von Mädchen aus nicht kriegführenden Familien galt als sehr schweres Verbrechen, auf das sogar die Todesstrafe stand", sagt Abenow.
Ombudsmann Lastajew will einen zusätzlichen Artikel 125/1 im Strafgesetzbuch durchsetzen. Damit soll eine Entführung zum Zwecke einer Zwangsheirat mit Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren geahndet werden. "Wenn dies einer Minderjährigen angetan wird, erhöht sich die Strafe auf fünf Jahre. Wenn die Entführung schwere Folgen für das Opfer hat, drohen bis zu zehn Jahre Haft", so der Parlamentarier Abenow über die Pläne des Menschenrechtsbeauftragten. Vergewaltigungen sollten gesondert geahndet werden.
Nach einer Gesetzesänderung werde die Zahl der Anzeigen wegen Brautraubs deutlich steigen, gibt sich der Abgeordnete der Regierungspartei überzeugt: "In den letzten drei Jahren gab es offiziell 214 Anzeigen, obwohl ich weiß, dass es viel mehr Versuche gab, Anzeige zu erstatten. Nur zehn Fälle wurden vor Gericht gebracht. Alle anderen, also 93 Prozent, wurden mangels Beweise eingestellt", betont Abenow.
Kritik an staatlicher Bildungspolitik
Der Staat habe auch bei der juristischen Bildung versagt, beklagt die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Chalida Aschigulowa. Dies gelte insbesondere für die Regionen, in denen Brautraub praktiziert werde.
"Unsere Jugend wird weder in den Schulen noch an den Universitäten genügend über die Menschenrechte informiert. Sie erfährt auch zu wenig über das Ehe- und Familiengesetz. Seit 2011 darf demnach eine Ehe nur nach freier und uneingeschränkter Zustimmung der Ehepartner geschlossen werden", betont Aschigulowa im DW-Gespräch.
Die Juristin unterstützt Murat Abenows Arbeitsgruppe, die sich mit Vorschlägen zur Verschärfung der Strafen für Brautraub befasst. Zusätzliche Hoffnungen setzt Aschigulowa aber in die kasachische Jugend, die zunehmend Abstand von alten Traditionen nehme.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk