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Finanzkrise raubt Straßenkindern Unterstützung

Andreas Boueke6. Februar 2009

Das Hilfswerk Casa Alianza schließt sein Kinderheim in Guatemala. Aufgrund der Finanzkrise sind wichtige Sponsorengelder aus den USA weggebrochen. Hunderte Kinder stehen vor dem Nichts.

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Das Kinderheim "Casa Alianza" in Guatemala Stadt muss schließen, weil auf Grund der Finanzkrise wichtige Sponsoren aus den USA die Gelder gekürzt haben.Bild: Andreas Boueke

"Wir hören gerne Musik zusammen oder schauen Videos", sagt Marta. Sie ist gerade vierzehn Jahre alt geworden. "Manchmal tanzen wir auch oder singen. Das macht großen Spaß." Marta lebt seit sechs Monaten in dem Heim für Mädchen des guatemaltekischen Kinderhilfswerks Casa Alianza. Ein Familiengericht hat sie dort eingewiesen, weil sie zu Hause bei ihrer Mutter nicht den notwendigen Schutz bekam. Das Mädchen ist schwanger. Sie verrät nicht, wer der Vater ist. Wahrscheinlich ein naher Verwandter. Bei Casa Alianza fühlt sie sich wohl: "Hier leben wir wie in einer großen Familie." Aber das wird bald vorbei sein. Die Organisation schließt ihre Tore. "Die Arbeit kann nicht weitergeführt werden", erklärt Leonel Dubon, der Programmdirektor von Casa Alianza. "Uns stehen nicht mehr die notwendigen Mittel zur Verfügung."

Kinderheim Casa Alianza in Guatemala Stadt muss schließen
Spielen statt Schuheputzen - Casa Alianza war für viele Kinder ein zu HauseBild: Andreas Boueke

28 Jahre lang hat sich Casa Alianza so intensiv wie keine andere Institution in Mittelamerika um die Wahrung der Rechte von Straßenkindern und missbrauchten Kindern bemüht. Als Lobbygruppe ist das Hilfswerk weltweit mit Öffentlichkeitsarbeit und politisch wirksamen Aktionen dafür eingetreten, dass Straßenkinder von der Gesellschaft wahrgenommen und unterstützt werden. Ihre Sozialarbeiter waren wichtige Ansprechpartner für Tausende Kinder und Jugendliche, die ohne erwachsene Bezugspersonen aufgewachsen sind. In verschiedenen Krisenzentren und Kinderheimen wurde ausgestoßenen Kindern ein neuer Anfang und eine positive Zukunftsperspektive ermöglicht.

"Hoffnungslose Zukunft“

Das alles ist jetzt vorbei, von heute auf Morgen. Der Guatemalteke Leonel Dubon ist erschüttert: "Die Zukunft der Kinder in diesem Land ist ziemlich hoffnungslos. Es gibt keine andere Organisation, die die Rolle von Casa Alianza übernehmen könnte. Dies ist ein harter Schlag für die Straßenkinder und für die Präventionsarbeit in den städtischen Armenvierteln."

Auch für viele Eltern war die Nachricht ein Schock. Isabel Lopez ist Mutter von vier Kindern, von denen drei in den vergangenen Monaten bei Casa Alianza gelebt haben. Sie selbst ist auch von der Organisation unterstützt worden: "Hier leben viele Mädchen, deren Mütter es nicht schaffen, sie zu versorgen. Aber ihnen wird geholfen. Als Mutter kannst du viele Dinge lernen. Schneidern, Brot backen, Konditorei, Kochen. So kann man sein Leben selbst in die Hand nehmen."

Verluste an der Börse und weniger Spenden

Casa Alianza wird seit Jahren auch aus Deutschland unterstützt, aber der wichtigste Finanzgeber ist die US-amerikanische Organisation Covenant House. Als die Direktorin von Casa Alianza Guatemala, Claudia Rivera, vor wenigen Wochen von einem Besuch der Covenant House Zentrale in New York zurückgekommen ist, war das düstere Ende schon abzusehen. "Ein gewisser Teil unserer Einnahmen hängt von den Börsenwerten ab. Die Einbrüche der Aktien haben uns geschadet. Außerdem hat die steigende Arbeitslosigkeit in den USA dazu geführt, dass weniger gespendet wird. Bevor Betriebe Leute entlassen, streichen sie lieber Gelder für Projekte, die sie früher unterstützt haben. Irgendwann musste das die Kinder treffen, mit denen wir arbeiten."

An der Börse verspekuliert

Nathan Byrd, Direktor für strategische Programmplanung von Covenant House in New York, hat nach mehreren Phasen der Restrukturierung keinen anderen Weg mehr gesehen, als die Unterstützung für Casa Alianza in Guatemala zu streichen: "Wie jedes gute Unternehmen haben auch wir Geld in Aktien angelegt. Es ist offensichtlich, dass wir da Verluste gemacht haben. In dieser Situation mussten wir uns eingestehen, dass es nicht weiter möglich war, die Dienstleistungen der Organisation auf diesem Niveau zu halten. Wir hatten nicht einmal die finanzielle Liquidität, dieses Jahr vernünftig zu beenden. Deshalb haben wir jetzt einen Schlussstrich gezogen, um den Mitarbeitern und den Kindern jedes ihnen zustehende Recht zugestehen zu können. Wir bezahlen alle Abfindungen und stellen sicher, dass noch genug Personal da ist, um die Kinder angemessen in einen neuen Lebensabschnitt zu begleiten. Keines der Kinder soll auf der Straße landen."

Kinderheim Casa Alianza in Guatemala Stadt muss schließen
Graffiti in Guatemala: "Was gelten Werte heute noch?"Bild: Andreas Boueke

Viele Kinder werden zurück zu ihren Eltern gehen müssen, obwohl einige vor der Gewalt zu Hause auf die Straße geflohen sind. Einige wenige werden bei anderen Organisationen untergebracht, aber keine hat soviel Erfahrung in der Arbeit mit minderjährigen Drogenabhängigen oder Opfern sexuellen Missbrauchs wie Casa Alianza. Schon gar nicht der guatemaltekische Staat. Der hat diese Verantwortung schon seit Jahrzehnten weitgehend Nichtregierungsorganisationen überlassen.

Mit dem Beschluss des Vorstands von Covenant House, die Unterstützung für Casa Alianza Guatemala zu streichen, ist die Organisation nicht mehr lebensfähig. Die meisten der hauptamtlichen Mitarbeiter wurden am 19. Januar entlassen. "Das Traurige ist, dass die globale Krise wieder einmal die Bedürftigsten am stärksten trifft", sagt Leonel Dubon. "Dies ist ein Beispiel dafür, dass die verwundbarsten Länder besonders stark betroffen sind. Die reichen Nationen werden zuerst die Unterstützung für andere Länder kürzen, bevor sie ihre eigenen Sozialprogramme beschneiden. Heute trifft es Casa Alianza in Guatemala, aber wir glauben, dass wir nicht die Letzten sein werden. Die Ereignisse bei uns haben die anderen sozialen Organisationen aufgerüttelt. Sie müssen jetzt analysieren, was sie tun können, damit es nicht zu einem Dominoeffekt kommt, der dazu führt, dass alle anderen auch stürzen."

Ausländische Freiwillige unterstützen

In den verschiedenen Heimen von Casa Alianza stehen neunzig Kinder vor dem Nichts. Viele individuelle Lösungen müssen gefunden werden. Dabei helfen einige junge, ausländische Freiwillige mit. Die Kinder müssen ernährt werden und der Schulunterricht soll vorerst weitergehen. Der junge Schweizer Lukas Linsi ist voll eingespannt. "Alles läuft ein bisschen chaotisch und sehr überraschend. Ich bin morgens um vier angerufen worden, um ins Zentrum zu kommen. Hier wurde mir plötzlich gesagt: Casa Alianza ist geschlossen, aber wir brauchen dich noch. Mit der Unterstützung der Freiwilligen geht es eigentlich ganz gut. Wir arbeiten halt sehr viel. 15 Stunden am Tag mit den Kindern zusammen sein, das ist schon anstrengend."

Kinderheim Casa Alianza in Guatemala Stadt muss schließen
Der Schweizer Lukas Linsi ist wohl der letzte Freiwillige, der in Casa Alianza mit den Kindern spieltBild: Andreas Boueke

Lukas möchte noch bis Juli in Guatemala bleiben. Demnächst wird er sich umschauen, in welcher anderen Organisation er mitarbeiten kann. Es sollte ihm nicht schwer fallen, etwas zu finden. Der Bedarf an längerfristiger freiwilliger Mitarbeit ist groß. Das mindert aber nicht seine Enttäuschung darüber, dass die Arbeit von Casa Alianza nicht mehr weitergeht. "Jetzt müssen die Straßenkinder die Konsequenzen der Fehler von Wallstreet-Brokern zahlen. Es trifft die am Härtesten, die überhaupt nichts haben, keine Familien, kein zu Hause. Einige haben über Jahre hier im Heim gelebt und jetzt werden sie wieder rausgeschmissen, vor die Tür gesetzt."

Der fünfzehnjährigen Brenda steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben. "Ich werde meine Freunde vermissen", sagt sie. "Es ist schwierig, woanders neue Freundinnen zu finden. Wir waren aneinander gewöhnt. Es wird mir schwer fallen, all die Mädchen zu vergessen." Brenda weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. "An die Zeit hier werde ich mich gerne erinnern. All die Unterstützung, die ich bekommen habe. Als ich noch zu Hause war, habe ich nie gelernt, was richtig ist und was falsch. Das habe ich erst hier erfahren und noch vieles mehr. Vielleicht werde ich jetzt auf der Straße leben. Aber ich danke Gott für das Jahr und die fünf Monate, die ich hier sein durfte. Ich habe Angst vor dem was kommt. Darauf bin ich nicht wirklich vorbereitet."