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Konflikte

Humanitäre Lage in Gaza spitzt sich zu

15. Mai 2021

Rund 10.000 Flüchtlinge, aber kein Ausweg: Im Gazastreifen wird die Lage für die Zivilbevölkerung immer dramatischer. Hilfsgüter werden knapp - und Corona ist auch noch da.

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Gaza City | Palistinenser suchen in einer Schule Schutz vor Luftangriffen
Diese Frau und ihre Tochter haben in einer von den UN betriebenen Schule Schutz gesuchtBild: Ibraheem Abu Mustafa/REUTERS

Manchmal verschickt die israelische Luftwaffe Warnungen, wenn sie Ziele in Gaza bombardiert, damit sich die Zivilbevölkerung rechtzeitig in Schutz bringen kann. Doch als die Armee am vergangenen Freitag ein Tunnelnetzwerk der Hamas angriff, sei dies nicht möglich gewesen, erklärte ein Sprecher der israelischen Streitkräfte IDF. Denn es habe sich um eine "Stadt unter der Stadt" gehandelt - große Teile davon unter Wohngebieten.

Die islamische Terrororganisation Hamas, die den Gazastreifen seit 2007 politisch kontrolliert, verwebt ihre Strukturen bewusst mit zivilen Einrichtungen - wohl auch, um den Preis für israelische Angriffe in die Höhe zu treiben. Auch die meisten der rund 2000 Raketen, die seit Montag auf Israel niedergingen, wurden aus Wohngebieten im Gazastreifen abgefeuert. Es ist also kaum daran zu zweifeln, dass die Hamas großes Leid bei der eigenen Zivilbevölkerung durch die Vergeltungsschläge in Kauf nimmt. 

Zehntausend Menschen auf der Flucht

Wie schon bei den vorangegangenen gewalttätigen Auseinandersetzungen des Konflikts zwischen Israel  und Palästina hat sich auch in dieser Woche die Situation für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen erneut verschlechtert: Bereits jetzt haben laut UN-Angaben rund 10.000 Menschen aus Furcht vor einer bevorstehenden israelischen Bodenoffensive ihre Wohnungen verlassen.

Infografik Karte Gazastreifen DE

Was nämlich die Flüchtlinge im Gazastreifen von jenen in allen anderen Konfliktregionen der Welt unterscheidet: Ein Grenzzaun versperrt den Fluchtweg, sodass es ohne eine Genehmigung Israels oder des südlichen Nachbarn Ägypten kein Entrinnen aus dem 360 Quadratkilometer großen Gebiet gibt.

Auch 16 Schulen des für die Palästinensergebiete zuständigen UN-Hilfswerks UNRWA wurden kurzerhand zu Notunterkünften umfunktioniert. Zunächst sei es die Aufgabe, die Menschen vor Ort zu unterstützen, sagte der für Gaza zuständige UNRWA-Direktor, Matthias Schmale. "Wir werden tun, was wir können, um den Binnenvertriebenen die allernötigste Unterstützung zukommen zu lassen", sagte Schmale der DW.

Acht tote Kinder aus einer Familie

Seit Beginn der israelischen Luftschläge wurden im Gazastreifen etwa 140 Menschen getötet und 1000 verletzt. Nach Angaben palästinensischer Hilfskräfte starben am frühen Samstagmorgen allein zehn Mitglieder einer einzigen Großfamilie beim Angriff auf ein Haus im Flüchtlingslager Shati - darunter acht Kinder.

"Sie trugen keine Waffen, sie feuerten keine Raketen ab", sagte der Vater von vier der Kinder. Sie seien getötet worden, "während sie ihre Festtagskleider für Eid al-Fitr trugen", das Zuckerfest, mit dem Muslime das Ende des Fastenmonats Ramadan feiern.

Insgesamt sind nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF seit Montag 40 Kinder im Gaza-Streifen getötet worden; weitere zwei in Israel.

Viele Güter sind knapp

Die Angriffe erschweren auch die Arbeit für Hilfsorganisationen, auf die große Teile der Zivilbevölkerung im Gazastreifen angewiesen sind: Laut einer Aufstellung des UN-Büros für die Koordinierung Humanitärer Angelegenheiten (OCHA) von 2019 waren damals 75 Prozent der 1,6 Millionen Einwohner auf Nahrungslieferungen angewiesen, jedes dritte Standardmedikament war nicht erhältlich.

Strom und Trinkwasser sind dauerhaft knappe Güter. Und weil seit dem 10. Mai die Grenzübergänge von israelischer Seite komplett geschlossen sind, kommen derzeit keine Treibstofflieferungen mehr an. Bereits jetzt wird der Diesel knapp - der dringend zum Beispiel für Krankenwagen, aber auch für den Betrieb von Stromgeneratoren gebraucht wird.

Immerhin scheine die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln noch ausreichend zu sein, sagte UNRWA-Gaza-Direktor Matthias Schmale der DW (Video oben): Er befürchtet, dass sich dies ändern könnte, "wenn die Menschen aus ihren Wohnungen flüchten und in Notunterkünften oder bei Verwandten unterkommen." Auch Wasser könnte schnell zur Mangelware werden.

Abseits der akuten Versorgung werde nach 14 Jahren Blockade, den Grenzprotesten 2018/19 und der Corona-Pandemie jedoch auch der Bedarf an psychologischer Hilfe wachsen: "Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Wenn Tausende in Notunterkünften unterkommen, wird es auch zu geschlechtsspezifischer Gewalt kommen und Druck auf Kinder geben. Wir müssen uns also dazu Gedanken machen, und die mentale Gesundheit der Menschen in den Blick nehmen."

Zweite Corona-Welle klingt gerade erst ab

Zu allem Übel kommt für die Bevölkerung noch die latente Bedrohung durch Corona hinzu: Die zuerst in England aufgetretene Variante B.1.1.7 hatte im Gazastreifen zu einer zweiten Welle geführt. Zwar haben auch im Gazastreifen Impfungen begonnen - während jedoch in Israel bereits 62 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten haben, liegt die Impfquote in den Palästinensergebieten gerade einmal bei fünf Prozent.

Gaza City | Palestinenser nach einem Luftangriff
Auch Corona ist für die Menschen im Gaza-Streifen noch nicht ausgestandenBild: Mohammed Salem/REUTERS

Laut der Organisation Ärzte ohne Grenzen entfielen Anfang Mai mehr als 60 Prozent der aktiven Fälle in den palästinensischen Gebieten auf den Gazastreifen - der kleiner ist und weniger Einwohner zählt als das Westjordanland. Zwischenzeitlich gab es dort mehr als 1000 Neuinfizierte pro Tag - und eine entsprechend hohe Auslastung der Krankenhäuser.

Die neue militärische Eskalation folgte also dicht auf die Anzeichen, dass die zweite Welle gebrochen sein könnte. "Es begann, beherrschbar zu werden", sagt Matthias Schmale über die Lage in den Krankenhäusern. "Soweit ich weiß, können sie die Verletzten versorgen. Aber natürlich, wenn das so weitergeht, und es eine Bodenoffensive gibt, werden die Krankenhäuser sehr schnell an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, und das wäre ein ernstes humanitäres Problem."