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Politik

"Gedenkt der Opfer, kämpft für die Demokratie"

31. Januar 2019

Der 86-jährige Holocaust-Überlebende Saul Friedländer kehrt zurück in die Sprache seiner Kindheit. Seine Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus bewegt. Und er warnt vor der Gefährdung der Demokratie.

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Berlin Bundestag Historiker Saul Friedländer
Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

"Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum: für die wahre Demokratie zu kämpfen." Eine Hoffnung als Auftrag. Knapp 30 Minuten hat Saul Friedländer zum Gedenken an die Opfer des Holocaust im Bundestag gesprochen. Der 86-Jährige berichtet von seiner Flucht als Sechsjähriger mit den Eltern, er schildert den Moment, als die Eltern vom zehnjährigen Sohn getrennt wurden. "Es war unsere letzte Begegnung." Bei diesen Worten wird es still im sonst oft lauten Plenarsaal.

Seit 1996 gibt es den "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus", den der damalige Bundespräsident Herzog auf den 27. Januar festlegte, den Jahrestag der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Das Gedenken ist stets ein Moment des Innehaltens im politischen Betrieb. Halbmast auf dem Reichstag, ruhige Atmosphäre im Saal, getragene Musik. Das offizielle Deutschland erinnert die Opfer des Nationalsozialismus, die sechs Millionen getöteten Juden, auch an Roma und Sinti, Behinderte. 

Ein Schicksal, das für viele steht

Eingangstor und Schienen zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
Symbol des Massenmordes an den Juden: Das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im heutigen Polen. Bild: Alex Pantcykov/dpa/Sputnik/picture-alliance

Und wie oft bei diesem Gedenken – ein Überlebender, ein Zeitzeuge, ein Opfer schenkt den Abgeordneten und der Gegenwart seine persönliche Geschichte, die immer für so viele Schicksale steht. Er wurde als Pavel 1932 in Prag geboren, überlebte die Nazi-Zeit als Paul-Henri in einem katholischen Internat in Frankreich, 1948 ging er nach Israel und nahm den Namen Shaul an, aus dem Saul wurde. Als Friedländer redet, bittet er die Zuhörer, "dass Sie mir die unsichere Vortragsweise in der Sprache meiner Kindheit nachsehen. Eine Sprache, die ich über viele Jahre vergessen hatte." Es ist ein feines Deutsch.

Das Plenum weist – auch das gehört zum 24. Gedenken - viele leere Plätze auf. Ihr Blau fällt auf in den hinteren Reihen aller Fraktionen. Gewiss, auch Abgeordnete mögen in diesen Tagen die Grippe haben. Und der politische Betrieb kennt immer ganz wichtige Verpflichtungen. Aber wenn heute der Redner nach vorne schaut, trifft sein Blick auf wohl 40 freie Stühle allein in der Unionsfraktion. Es wären noch mehr, wenn nicht viele Schülerinnen und Schüler die letzten Reihen im weiten Rund füllen. Sie lauschen aufmerksam.

Deutschland Holocaust Gedenkstunde im Bundestag Saul Friedländer
Bundespräsident (rechts) geleitet den Historiker Friedländer in den Plenarsaal. Dahinter Kanzlerin Merkel und die Frau des Bundespräsidenten, Elke BüdenbenderBild: Reuters/H. Hanschke

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist da und geleitete den Gast in den Saal, die Kanzlerin, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, der Präsident des Bundesrats. Manches wirkt wie ein Ritual. Könnte man meinen. Aber immer ist es diese eine große Rede, die vergegenwärtigt, viele wohl sprachlos macht. Immer dieses Zeugnis der letzten, die Zeugnis ablegen können. Geschenk, Mahnung, Verpflichtung.

Friedländer ist einer der großen Historiker bei der Erforschung des Holocaust. Er leistet wichtige Aufklärung über die Alltäglichkeit des industriellen Mordens und das Wegschauen der Bevölkerung, die von dem massenhaften Töten durchaus wusste. Das schildert er kurz. Aber besonders bewegend wird seine Rede, als er sich vom – wie er sagt – "allgemeinen Hintergrund" abwendet und sein und das elterliche Schicksal erinnert. Die Eltern kamen in Auschwitz ums Leben. "Ich frage mich oft, was meine Eltern während der dreitägigen Fahrt gesprochen haben." Man ahnt, die Frage, wie schlimm die Zugfahrt nach Auschwitz war, lässt ihn nicht los.

Deutschland Holocaust Gedenkstunde in Bundestag
Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus - und längst nicht alle Plätze im Plenum sind besetzt. Bild: Reuters/H. Hanschke

Rund um das nun 24. Gedenken des Bundestages sprechen auch Abgeordnete über die Eskalation bei der Gedenkveranstaltung im Bayerischen Landtag vor einer Woche. Da sprach als Zeitzeugin Charlotte Knobloch (86), wenige Tage jünger als Friedländer. Und die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland äußerte ihre Angst um das Deutschland 2019, nannte die rechtspopulistische AfD verfassungsfeindlich und warf ihr vor, die demokratischen Werte verächtlich zu machen. Die meisten AfD-ler verließen daraufhin noch während der Rede den Saal.

Gefährdungen der Demokratie

Deutschland Holocaust Gedenkstunde im Bundestag
Charlotte Knobloch (Mitte) mit dem heutigen Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef SchusterBild: Getty Images/AFP/O. Andersen

Knobloch sitzt an diesem Dienstag in Berlin auf der Gästetribüne des Bundestages, neben ihrem Nachfolger Josef Schuster, mit einigen weiteren hochbetagten Überlebenden, Freunden, Geistlichen von Judentum und Kirchen, auch dem Generalsekretär des Zentralrats der Muslime. Einige Meter weiter folgen diverse Botschafter, darunter die Vertreter Israels, der USA, des Vatikan der Rede Friedländers.

Auch Friedländer, der in Israel lebt, geht auf die neuen Gefährdungen der Demokratie ein. Er nennt die AfD nicht. Aber er beklagt Antisemitismus, auch "Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken", "immer weiter verschärfenden Nationalismus". Sie seien "in besorgniserregender Weise auf dem Vormarsch". Und er kritisiert, dass von extremen Rechten wie von extremen Linken das Existenzrecht Israels infrage gestellt werde. Heute zeige sich Antisemitismus in altem und in neuem Gewand. In den Beifall stimmen da auch Teile der AfD und der Linken ein.

Stehender Applaus

Als Friedländer seine Rede beendet und langsam aufsteht vom Stuhl am Rednerpult, hebt Beifall an. In allen Fraktionen erheben sich Abgeordnete, von der AfD bis zur Linken. Bald steht der ganze Saal und hört fast nicht auf zu klatschen. Nichts ist da Ritual.

Deutschland Holocaust Gedenkstunde im Bundestag
Auf der Besuchertribüne des Bundestages. Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Schreiber

Zum Abschluss spielt das Streichquartett aus Prag, Friedländers Geburtsort, Musik von Viktor Ullmann. Ein begnadeter österreichischer Komponist, der in Auschwitz 1944 starb. Das kurze Adagio spiegelt die Dramatik des Erinnerns. Scheinbar leicht zu hören, voller Spannung.

Dann ist diese ruhige Stunde vorbei. Die Stimmung bleibt noch. Man sieht nachdenkliche Gesichter. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, würdigt vor einer Kamera die Rede Friedländers. Eine Rede, der wohl jeder in der Politik zustimmen werde. Und Schuster kommt auf Nachfrage auch auf das Verhalten der AfD bei der Rede Knoblochs  in München zu  sprechen. "Der getroffene Hund bellt. Genau das haben wir an jenem Tag im bayerischen Landtag erlebt."

Bundespräsident Steinmeier fährt zurück ins Schloss Bellevue. Den Morgen über spricht er noch mit den Schülern und Schülerinnen, die im Bundestag waren, über die Verantwortung zur Erinnerung. Draußen reißt der Himmel auf. Ein Wintertag mit blauem Himmel. Die Flaggen über dem Parlament flattern auf Halbmast im kalten Wind. 

Erinnerung an NS-Verbrechen