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Hier wächst Frieden und Nachwuchs-Hip-Hop

Katharina Wecker
12. Mai 2017

In Kolumbiens zweitgrößter Stadt Medellin bauen Musiker Gemüse an und rappen mit Anwohnern, um Erinnerungen an Gewalt zu verarbeiten. Dadurch soll nachhaltiger Frieden entstehen.

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Kolumbien Agro Arte in San Javier
Bild: Agro Arte

Mit seinen großen Ohrringen, dem Kopftuch und der weiten, tiefsitzenden Hose sieht Luis Fernando Alvarez nicht wie ein Landwirt aus. Doch der Rapper ist begeisterter Gärtner. Luis, oder "El AKA" wie er genannt wird, hat seine zwei größten Leidenschaften in der Initiative Agro Arte - Agrikultur und Kunst - vereint.

Hoch in den Bergen von San Javier, einer der ärmsten und gewalttätigsten Gegenden in Medellin, hat Luis graue Plätze und verwilderte Flächen an Straßenrändern in fruchtbares Land verwandelt. Zusammen mit Anwohnern, Jung und Alt, pflanzt er Möhren, Salat, Blumenkohl und Kräuter an. An den Nachmittagen und Abenden, sobald alle Pflanzen gegossen, geschnitten und Früchte geerntet sind, macht die Gruppe gemeinsam Musik. 

Hip Hop und Landwirtschaft passen auf den ersten Blick nicht sonderlich gut zusammen. Doch El AKA beteuert, es sei die perfekte Kombination. Damit könne man alle Nachbarn zusammenbringen. "Hip Hop zieht die jungen Leute an und Landwirtschaft die älteren", sagt El AKA und fügt hinzu, dass Rap und Agrikultur mehr gemeinsam haben, als man denke: "Hip Hop ist von der Straße, aber unter der Straße ist Erde. Und Erde enthält unsere Geschichte und unsere Erinnerungen". Mit Musik lassen sich Erinnerungen verarbeiten. 

San Javier Bewohner Blumen Pflanzen
Einmal die Woche treffen sich die Anwohner und pflanzen Blumen und Gemüse anBild: David Valencia/Human Mark

Trauerverarbeitung

In San Javier gibt es viele schmerzhafte Erinnerungen, die heilen müssen. Die Plätze und Straßen, die heute von der Initiative begrünt werden, waren im Jahr 2002 Schauplatz einer brutalen Militäroffensive. Vier Tage lang durchforstete die Armee, unterstützt von Milizen, die Häuser des Viertels und die engen Gassen, die sich wie ein Labyrinth bergauf und bergab ziehen, um Guerrilla-Kämpfer zu vertreiben. Die Anwohner gerieten dabei zwischen die Fronten. Hunderte Zivilisten wurden verletzt, hunderte weitere verhaftet, ohne je vor Gericht zu kommen. Dutzende Menschen sind während und nach der Operation spurlos verschwunden. 

Nach der Schlacht befand sich San Javier unter Kontrolle von Milizen und verkam zum gewalttätigsten Viertel einer Stadt, die damals als gefährlichster Ort der Welt galt. Ein trauriger Spitzenplatz.

Es war in den Nachwehen der Militäroffensive, als El AKA beschloss, die Initiative Agro Arte zu gründen. Die Anwohner waren traumatisiert, standen unter Schock. Agro Arte sollte helfen, Narben zu heilen und Nachbarn wieder miteinander in Kontakt zu bringen. Denn nur in einer gesunden Gemeinschaft kann es nachhaltigen Frieden geben, so die Idee von El AKA.

Kolumbien Agro Arte in San Javier
Straßenränder werden verschönertBild: Agro Arte

Fünfzehn Jahre später treffen sich die Bewohner von San Javier jeden Samstag, um gemeinsam das Land zu bestellen. Einige Jugendliche schneiden Büsche mit Macheten an den steilen Berghängen, andere lockern den Boden mit Rechen auf. Ein junges Mädchen pflanzt Kräuter in weiß bemalten Plastikflaschen, die an der Seite aufgeschnitten wurden und entlang einer Mauer hängen. "Juanca ist immer in unseren Herzen" steht auf einer der Pflastikflaschen, mit denen an verschwundene Familienmitglieder erinnert werden. Von vielen fehlt seit 2002 jede Spur. 

Bei Agro Arte muss jeder selbst aktiv werden. Ein etwa fünfzigjähriger Mann wollte einige Samen verschenken, doch er wurde gleich aufgefordert, mitzumachen. "Die Menschen müssen selbst sähen. So entsteht ein Dialog", sagt El AKA, der genauso schnell und rhythmisch spricht, wie er rappt. "Die Anwohner bauen ihr eigenes Gemüse an und wenn etwas nicht funktioniert, können sie jemanden ansprechen: 'Schau, mein Salat ist verwelkt. Wie sieht deiner aus?' Und schon hast du den Einstieg in ein Gespräch."

Hip Hop im neuen Licht

Am Anfang war die Skepsis im Ort gegenüber El AKA groß. Dieser Rapper will nun Möhren und Zwiebeln anpflanzen?

Margoth Yepes, Mutter eines Teenagers, erinnert sich gut, als ihr Sohn das erste Mal von Agro Arte erzählte. "Vor ein paar Jahre kam er zu mir und meinte, dass er mit ein paar Freunden zum Sähen geht. Zum Sähen? Wunderte ich mich. Dann brachte er eine CD von El Aka mit. Ich war perplex. Das ist der Typ? Der mit den großen Ohrringen und Kopftuch?", lacht Margoth. "Aber ich fand es interessant, wenn auch ein wenig eigenartig."

Jetzt ist sie beeindruckt von dem, was die Jugendlichen lernen. "Sie wissen, welche medizinischen Pflanzen gegen Kopfweh oder Magenkrämpfe helfen, welche Kräuter sich für Tee eignen und wie man Salat zieht."

El AKA und die Hügel von  San Javier
El AKA in den Bergen von San JavierBild: David Valencia/Human Mark

Mittlerweile hat sich das Bild von Hip Hop, das die Anwohner hatten, geändert. "Hip Hop wurde immer mit Straftaten und Drogen in Verbindung gebracht", sagt El Aka. "Aber über die Jahre hinweg haben uns die Leute kennengelernt und laden uns nun überall hin ein."

Wenn die Hip-Hop-Nachwüchsler ihre neuen Lieder präsentieren, kommt die ganze Nachbarschaft zusammen. Sogar die Großeltern sind vom Rap-Fieber gepackt. Wie zum Beispiel die Oma von Paulo, die nach gemeinsamem Arbeiten im Garten die Kids zu Konzerten begleitet: "Ich liebe es, wenn sie singen. Agro Arte ist etwas ganz Besonderes, Schönes und Wichtiges für mich. Ich sehe, wie die Kids sich entwickeln, hart arbeiten und interessiert sind an ihrem Land und ihren Mitmenschen."

Hier wächst Hoffnung

Bei Agro Arte geht es um Nachhaltigkeit und Kunst, aber auch um Hoffnung. San Javier zählt mittlerweile nicht mehr zu den übelsten Gegenden der Stadt. Aber Paramilitärs und Drogengangs terrorisieren weiterhin ganze Straßenzüge. Letztes Jahr kamen in Medellin mehr als 560 Personen gewaltsam ums Leben. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden 115 Menschen getötet.

Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist hoch. Wenn Arbeitgeber auf Lebensläufen sehen, dass die Bewerber aus San Javier stammen, landen die Bewerbungen meist auf dem Ablehnungsstapel. Die Vorurteile gegen das Viertel halten sich hartnäckig. Die Jungen aus San Javier haben Zeit, viel Zeit, um auf dumme Gedanken zu kommen. Oft erscheint ein Leben mit Drogen und Gangs als einzige Option. Genau da bietet Agro Arte eine Alternative.

Kolumbien Agro Arte in San Javier
Auch die Kleinsten gärtnern mitBild: Agro Arte

"Wenn ich zu faul bin, um irgendetwas zu machen, kommt jemand vorbei und holt mich ab. Dann muss ich aufstehen und säen", sagt ein junger Mann, der sich MC Gota nennt. Gemüse anzubauen ist zeitaufwendig. Die Pflanzen müssen regelmäßig gegossen und die Ernte eingebracht werden. Durch die Initiative entstehen zwar keine Jobs, aber die Jugendlichen bekommen Struktur, eine Aufgabe. Und neues Selbstwertgefühl. 

"Das Wichtigste, was sie einem hier beibringen, ist Vertrauen in sich selbst zu haben", sagt der junge Rapper MC Rayo, der zusammen mit El AKA und anderen Jugendlichen regelmäßig neue Lieder schreibt und Konzerte gibt. "Sie zeigen, dass es einen alternativen Lebensstil gibt, dass du nicht den ganzen Tag zu Hause im Internet oder rauchend an der Straßenecke rumhängen musst."

Friede? Noch nicht ganz

Genau wie in San Javier sehnen sich die Leute im ganzen Land nach Frieden. Im November hat die Regierung einen Friedensvertrag mit der Rebellengruppe FARC unterschrieben. Seitdem ist Kolumbien auch in Friedengesprächen mit der zweitgrößten Guerrillaguppe ELN, um den Zivilkrieg formal zu beenden. Doch die Gewalt der Drogenkartelle hält an.

Bis der Frieden auch in jeder Ecke des Landes angekommen ist, wird es noch dauern. Deswegen sind Initiativen wie Agro Arte so wichtig. Sie binden Bewohner der Stadtviertel in positive Aktionen ein trotz der vielen Herausforderungen, vor denen einige immer noch stehen.