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Hever: "Israelische Regierung bindet sich politisch die Hände"

Kersten Knipp1. Juli 2014

Der israelische Aktivist Shir Hever sieht den Mord an den drei Jugendlichen im Zusammenhang mit der jüngsten Entwicklung des Nahost-Konflikts: Israel versuche, das Verbrechen politisch zu instrumentalisieren.

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Shir Hever, israelischer Ökonom (Foto: privat)
Bild: privat

DW: Im Westjordanland wurden drei junge israelische Siedler ermordet. Wie erklären Sie sich dieses Verbrechen?

Shir Hever: Im Westjordanland herrschen Besatzung und Gewalt. Es gibt nicht nur die Gewalt der Besatzer gegen die Palästinenser, sondern umgekehrt auch die der Palästinenser gegen die Besatzer. In einer solchen Situation ist es nicht überraschend, dass es zu diesem Mord kam. Es ist nicht das erste Mal, dass Palästinenser Israelis ermordeten. Allerdings wurden bislang mehr Palästinenser als Israelis ermordet.

Nach dem Verschwinden der drei Israelis rückte die israelische Armee im Westjordanland ein. War Israel nicht auch verpflichtet, das Leben seiner Bürger zu retten?

Der israelische Staat ist verpflichtet, seine Bürger zu schützen. Auch aus diesem Grund verbietet das internationale Recht einer Besatzungsmacht, Zivilisten in dem von ihr besetzten Gebieten anzusiedeln. Der Chef der israelischen Geheimpolizei hat bereits vor Monaten die Befürchtung geäußert, dass israelische Bürger im Westjordanland entführt werden könnten. Dennoch hat sich die israelische Regierung geweigert, palästinensische Gefangene freizulassen. Das Vordringen in die Westbank war keine systematische Suche nach den drei vermissten Israelis, sondern ein Akt der Bestrafung. Das Militär rückte in alle größeren Städte vor. Hunderte Palästinenser wurden verhaftet, ihr Eigentum beschädigt, sieben Menschen getötet. Wenn die israelische Regierung ihre Bürger schützen wollte - warum nutzte sie deren Verschwinden dann als Vorwand, um die Palästinensische Autonomiebehörde anzugreifen?

Kann man denn wirklich sagen, dass es sich um eine Aggression handelt? Immerhin gab es drei Tote.

Nachdem die drei Israelis vermisst wurden, verurteilte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die mutmaßliche Entführung und drückte seine Hoffnung aus, dass die Jugendlichen bald wieder gefunden würden. Trotzdem ließ der israelische Premier Benjamin Netanjahu das Westjordanland angreifen. Nachdem dabei sieben Palästinenser ums Leben gekommen waren, forderte Abbas Netanjahu auf, sich zu diesen Opfern zu äußern. Netanjahu lehnte das mit der Begründung ab, sie seien im Zuge der israelischen Selbstverteidigung getötet worden. Das zeigt, dass es sich um eine israelische Aggression gegen die Palästinenser handelt.

Außerdem fehlt bis heute jeder Beweis, dass das Verbrechen auf die Hamas zurückgeht. Die Beschuldigung dient dem Zweck, die israelische und internationale Öffentlichkeit auf einen Militärschlag gegen den Gazastreifen vorzubereiten. Zugleich nutzt Netanjahu diese Anschuldigung dazu, die Bildung der palästinensischen Einheitsregierung rückgängig zu machen. Gleichzeitig will er die Gewalt derart eskalieren lassen, dass die Palästinenser in der Weltöffentlichkeit nicht mehr so gut dastehen. All dies tut er, obwohl sich die Hamas bis heute zu den Morden nicht bekannt hat. Im Gegenteil, sie bestreitet, irgendetwas damit zu tun zu haben.

Sie erwähnten die palästinensische Einheitsregierung. Warum lehnt die israelische Regierung sie ab?

Es handelt sich um eine sehr alte israelische Strategie: Teile und herrsche. In Gaza werden die Palästinenser wie in einem Gefängnis gehalten. Sogar die Nahrungsmittel werden von Israel rationiert. Und die Palästinenser im Westjordanland leben immer mit der Drohung, dass sie, wenn sie den Israelis nicht gehorchen und sich nicht ruhig verhalten, unter ähnlichen Verhältnissen wie die Palästinenser im Gazastreifen leben müssen. Das erlaubt Israel, Furcht unter den Palästinensern zu säen. Wenn sich die Palästinenser aber mit dem gemeinsamen Ziel zusammenschließen, die Besatzung zu beenden und ihre Freiheit zu gewinnen, bereitet das Israel erhebliche Sorgen. Darum versucht man, die Regierung zu verhindern.

Wie sehen Sie das jüngste israelische Vorgehen? Gibt es Unterschiede zu den bisherigen Vorgehensweisen?

Ja. Nachdem die drei Siedler verschwunden waren, zeigten sich sehr gefährliche taktische Veränderungen. Die israelische Regierung war immer schon bereit, mit Gewalt gegen die Palästinenser vorzugehen. Sie bedroht und beschuldigt sie, ohne Beweise zu haben. Jetzt aber lässt die Regierung die Situation und die Gewalt derart eskalieren, dass sie außer Kontrolle geraten könnte. Am Dienstag (01.07.2014) wurden Palästinenser in Jerusalem von gewalttätigen jungen Israelis angegriffen, ohne dass die Polizei eingeschritten wäre. Auch die Regierung lässt das geschehen. Die Folge davon ist, dass die Regierung immer mehr ihre politische Handlungsfähigkeit verliert.

Inwiefern?

Man sieht es etwa an den Gesetzen für den Umgang mit palästinensischen Gefangenen. So wurde ein Gesetz erlassen, das es der Regierung verbietet, Gefangene zu entlassen, wenn diese zur Gefahr für Israels Sicherheit erklärt werden. Dabei handelt es sich natürlich um palästinensische Gefangene. Das Gesetz soll künftigen Gefangenenaustausch verhindern. Wenn sich die Regierung also aus eigenem Antrieb die Hände bindet, um den Konflikt eskalieren zu lassen, ist das sehr gefährlich. Ich fürchte, diese Politik wird Israels internationales Ansehen weiter sinken lassen. Vor allem aber kann sie zu weiteren Toten und Gefangenen führen.

Wie könnten die Palästinenser nun reagieren?

Die Regierung von Mahmud Abbas ist von den Palästinensern selbst stark kritisiert worden. Sie warfen ihr vor, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. In den letzten Monaten, insbesondere nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen, hat sich Mahmud Abbas politisch sehr klug verhalten. So hat er den Holocaust öffentlich verurteilt. Für seine Politik hat er viel internationale Unterstützung erhalten. Aber jetzt befindet er sich in einer sehr schwierigen Situation. Denn während ihrer Invasion in das Westjordanland haben die Israelis die Palästinensische Autonomiebehörde zur Zusammenarbeit aufgefordert. Abbas war gezwungen, der israelischen Regierung dabei zu helfen, sein eigenes Volk anzugreifen. Gleichzeitig haben Mitglieder des israelischen Kabinetts Abbas beschuldigt, für die Entführung und den Mord verantwortlich zu sein. Das bringt ihn in eine sehr schwierige Situation. Das Klügste für die Palästinenser wäre jetzt, den Kontakt zur internationalen Gemeinschaft zu suchen. Denn das ist das Einzige, was sie schützen könnte.

Der Ökonom Shir Hever ist israelischer Aktivist. Er beschäftigt sich vor allem mit den wirtschaftlichen Aspekten der Besatzung und arbeitet für das "Alternative Information Center", eine palästinensisch-israelische Organisation.