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PolitikAfrika

Die Geister, die Abiy Ahmed rief 

Jan Philipp Wilhelm
1. Dezember 2020

In Äthiopien entlädt sich über die sozialen Medien eine Welle des Grolls gegen Tigray - angestachelt wohl auch durch die Anti-TPLF-Rhetorik der Regierung. Hat Premierminister Abiy den Bogen überspannt?  

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Zwei Mitglieder der Amhara-Miliz posieren mit Waffen
Mitglieder einer Amhara-Miliz: Schon vor Beginn des Kriegs waren die Spannungen mit Tigray großBild: EDUARDO SOTERAS/AFP

Rund einen Monat nach Beginn des Kriegs in der nordäthiopischen Region Tigray ist die Propagandaschlacht in vollem Gange. Täglich dringen weiterhin Berichte über kriegerische Auseinandersetzungen zwischen der äthiopischen Armee und Kämpfern der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) nach außen - und das, obwohl Premierminister Abiy Ahmed schon vor einigen Tagen verkünden ließ, die Kampfhandlungen seien mit dem Einmarsch von Regierungstruppen in der Regionalhauptstadt Mekelle vorüber. TPLF-nahe Medien vermelden derweil eigene militärische Erfolge, z.B. in der historisch bedeutsamen Stadt Aksum im Zentrum Tigrays.   

Verifizierte Informationen aus Tigray sind aufgrund des anhaltenden Kommunikations-Blackouts immer noch Mangelware. Umso lauter wird dafür außerhalb der Region um die Deutungshoheit gekämpft. Und der Ton wird rauer: Als "kriminelle Mafiosi" und "tagaktive Hyänen" bezeichnete Abiy jüngst die Führung der abtrünnigen TPLF – Bezeichnungen, die in den sozialen Medien wiederholt und weitergetragen werden.   

Soldaten auf einer Straße nahe der Grenze zu Tigray
Ein Konvoi der äthiopischen Armee: Offiziell sind die Kampfhandlungen in Tigray vorbeiBild: Ethiopian News Agency/AP/picture alliance

Tatsächlich ist bereits seit Wochen auf der Facebookseite von DW Amharisch eine Flut verunglimpfender Kommentare in Richtung Tigray zu beobachten. Redaktionsleiter Ludger Schadomsky berichtet von einem signifikanten Anstieg problematischer und hetzerischer Postings. Auch wenn sich die Mehrheit gegen die "TPLF-Junta" oder "TPLF-Mafia" richte, würden Tigreer etwa als "Kinder der Militärjunta" verunglimpft, die allesamt "zerstört und eliminiert" werden müssten. Vom Hass der "100 Millionen Äthiopier" auf "fünf Millionen Tigreer" ist in einem anderen Post die Rede. Auch auf den Social-Media-Präsenzen äthiopischer Medien gebe es eine ähnliche Entwicklung, sagen Beobachter.   

Aufgestaute Wut gegenüber TPLF-Eliten?  

Entlädt sich da der Groll gegen die TPLF-Eliten aus Tigray, die zwischen 1991 und der Amtsübernahme Abiys 2018 die wichtigsten Schaltstellen in Politik, Wirtschaft und Militär besetzt hielten? "Es gibt ganz klar eine aufgestaute Wut gegen die Tigreer für ihre Regierungsführung in all den Jahren", sagt der Buchautor und langjähriger Afrika-Korrespondent Martin Plaut im DW-Interview.

In Tigray leben lediglich sechs Prozent der äthiopischen Gesamtbevölkerung. Der Ärger sitze tief darüber, dass die nordäthiopische Minderheit jahrzehntelang einen Großteil der Ressourcen des Landes für sich beansprucht habe. "Viele haben das Gefühl, dass die TPLF-Eliten jetzt endlich die Quittung für ihr Verhalten bekommen", so Plaut.   

Das Büro des Premierministers habe außerdem mit seiner teilweise sehr harten Sprache in den letzten Tagen dazu beigetragen, dass vieles, was jahrzehntelang unter dem Deckel gehalten wurde, nun nach oben komme, sagt Annette Weber, Äthiopien-Expertin bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP).  Dennoch warnt die Expertin davor, die Hasskommentare in den Sozialen Medien als generelle Feindseligkeit gegenüber Tigray zu interpretieren. "Es ist nicht so sehr eine Animosität gegen Tigray, sondern tatsächlich gegen die TPLF. Und das ist schon sehr klar in den letzten 30 Jahren TPLF-Herrschaft verankert." 

Äthiopien | Premierminister | Abiy Ahmed Ali
Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed: Gefährliche Rhetorik?Bild: Michael Tewelde/AFP/Getty Images

Auch Jan Abbink, Ethnohistoriker an der Universität Leiden, kann keine breite, ethnisch motivierte Feindseligkeit gegen Tigray und seine Bewohner im Rest des Landes erkennen. Zwar sei es bedauerlich, dass Menschen mit radikalen Ansichten, die teils auch aus der Diaspora stammen würden, die Stimmung im Land beeinflussen wollten. Doch er betont, dass die Regierung in ihrer Kommunikation zwischen der TPLF und der Zivilbevölkerung Tigrays klar unterscheide. "Die Regierung und die staatlichen Institutionen in Äthiopien, aber auch Parteien im Parlament und Aktivisten versuchen - bis auf wenige Ausnahmen - zu differenzieren und solche Tendenzen zu entschärfen", sagt Abbink im Gespräch mit der DW.   

Wie groß ist der Rückhalt der TPLF?  

Martin Plaut hält Abiys Anti-TPLF-Rhetorik dennoch für gefährlich. "Ich glaube nicht, dass man so klar zwischen der TPLF und Tigreern unterscheiden kann. Es funktioniert einfach nicht." Tatsächlich hatte die TPLF erst im September bei regionalen Wahlen 90 Prozent der Stimmen erzielt, doch das Votum gilt als umstritten. "Auch wenn diese Wahlen sicherlich nicht die freiesten und fairsten Wahlen waren, haben unabhängige Beobachter vor Ort damals erklärt, dass das Ergebnis mehr oder weniger die Stimmung in Tigray widerspiegele," so Plaut. 

Politisch scheint Abiys Kommunikationsstrategie bislang allerdings aufzugehen. Immer wieder betonen der Premierminister und seine Mitstreiter, dass die TPLF in den vergangenen zweieinhalb Jahren Gesprächsangebote ausgeschlagen, die Legitimität der Regierung in Frage gestellt und die innere Sicherheit durch der Unterstützung von Rebellenbewegungen im ganzen Land untergraben habe. Das findet Anklang: Zumindest für den Moment scheinen sich über ethnische und politische Differenzen hinweg große Teile Äthiopiens auf den gemeinsamen Gegner TPLF geeinigt zu haben.  

"Ich war selbst überrascht, dass Abiy plötzlich so viele neue Unterstützer bekommen hat", erklärt Äthiopien-Experte Jan Abbink. Doch er warnt auch, dass diese Welle der Unterstützung ohne weitere Reformen kurzlebig sein könnte. "Die Konflikte in anderen Teilen des Landes, etwa an der Grenze zwischen Oromia und der Somali-Region oder zwischen kleineren Gruppen im Westen Oromias, die werden nicht einfach verschwinden. Die müssen gelöst werden", so Abbink.  

Tigray-Konflikt | Sudan Flüchltingscamp Umm Rakouba
Tausende sind bereits vor der Gewalt in der Region Tigray ins Nachbarland Sudan geflüchtetBild: Nariman El-Mofty/AP/picture alliance

Nationaler Dialog  

"Dieser Krieg in Tigray hat jetzt vieles andere verdeckt, aber diese Auseinandersetzungen untereinander, die sind längst nicht geklärt", sagt auch Annette Weber von der SWP. "Und ich glaube, ohne einen Dialog, der sehr viele mit an den Tisch nimmt, auch junge Leute, der eine gemeinsame Vorstellung entwickelt von: In was für einem Staat wollen wir eigentlich leben? Ohne so etwas lässt sich das schwerlich wieder einfangen."  

Ein erster Schritt Richtung Versöhnung, auch mit Tigray, könnten die Wahlen sein, die aufgrund der Corona-Pandemie schon einmal verschoben wurden und nun im Mai oder Juni kommendes Jahr stattfinden sollen. Doch selbst wenn der von manchen Experten befürchtete Guerillakrieg in Tigray ausbleiben sollte: Können die Wunden des aktuellen Konflikts innerhalb weniger Monate heilen? "Ich glaube, dass die Regierung jetzt große Angebote machen muss - nicht unbedingt an die TPLF, aber an die Bevölkerung", sagt Annette Weber. "Angebote, die zeigen, dass deren Interesse an Wahlen und an Beteiligung ernst genommen wird."   

"Tigray ist ein essentieller Teil Äthiopiens, historisch, religiös, kulturell", sagt auch Jan Abbink. Wichtig sei nun, dass eine neue Führung in der Region etabliert werde. Es gebe trotz allen Feindseligkeiten den tiefen Wunsch aufseiten der Zentralregierung und der Bevölkerung Tigrays nach demokratischen, transparenten und produktiven Beziehungen.