1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Modellstadt für Habeck: Green City Freiburg

14. Januar 2022

Klimaschutzminister Robert Habeck will Deutschland bis 2045 klimaneutral machen. Im Süden kommt eine Stadt seinen Vorstellungen jetzt schon nah: Freiburg.

https://p.dw.com/p/45XdX
Freiburg Stadtpanorama
Freiburger Münster, mit Blick auf den SchwarzwaldBild: Wolfgang Frank/ EIBNER-Pressefoto/picture alliance

Als Robert Habeck am 10. September 2021 bei seiner Wahlkampftour in Freiburg Station macht, hat er praktisch ein Heimspiel. "Bereit, weil Ihr es seid" lautet das Motto der Grünen. Und wer, wenn nicht diese Grünen-Hochburg, sollte beim Thema Nachhaltigkeit startfertig sein, Deutschland so schnell wie möglich klimaneutral zu machen. 2008 hat sich die 230.000-Einwohner-Stadt schließlich ein wenig vollmundig die Marke Green City verpasst und bezeichnet sich selbst als deutsche Umwelthauptstadt.

Freiburg puscht mit seinen 1800 Sonnenstunden im Jahr die solare Energie, genauso, wie es Habeck vorschwebt. Die Liste ist lang: das neue Rathaus - das weltweit erste mit Nullenergie-Konzept und 800 Solarpaneelen an der Fassade. Das neue Fußballstadion - mit der weltweit größten Solaranlage auf dem Stadiondach. Die Kirche - will als erste Diözese in Deutschland den CO2-Ausstoß auf null senken. Der neue Klimaschutzminister will Deutschland bis 2045 klimaneutral machen, Freiburg möchte bei diesem Wettlauf wie so oft der "Igel" sein und peilt dies schon sieben Jahre früher an, also für 2038.

Freiburg Vorreiter vor allem bei der Sonnenenergie

Was Freiburg in Sachen Klimaschutz vielen anderen deutschen Städten voraus hat, kann wahrscheinlich niemand so gut erklären wie Franziska Breyer. An diesem Montag wird die Mitarbeiterin der Stabsstelle Klimaneutralität beim Umweltschutzamt in einer Online-Konferenz anderen Städten die Freiburger Klimaschutzpolitik erläutern. Kind der Anti-Atom-Bewegung, trägt die ausgebildete Försterin ihre Präsentation schon im Vorfeld routiniert vor. Sie sagt: "Wir sind unter den Top Ten der engagiertesten Städte Deutschlands beim Klimaschutz."

Franziska Breyer von der Stadt Freiburg
"Klimaschutz ist kein Umweltthema, sondern muss in allen Bereichen mitgedacht werden" - Franziska BreyerBild: Oliver Pieper/DW

Zwölf Millionen Euro will Freiburg ab 2023 jedes Jahr in zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen pumpen, trotz der angespannten Haushaltslage wegen der Corona-Pandemie. Die Solarpflicht auf gewerblichen Gebäuden, die Robert Habeck durchsetzen will, gibt es in Baden-Württemberg und damit Freiburg jetzt schon. Und im Westen zieht die Stadt in Dietenbach einen neuen Stadtteil für 15.000 Menschen hoch, klimaneutral natürlich. "Dort wird nichts mehr verbrannt, keine Biomasse, keine Pellets, kein Öl, kein Gas. Der ganze Stadtteil wird mit Abwärme aus einem Abwasserkanal, Wärmepumpen und Energie aus Photovoltaikmodulen versorgt."

Freiburger fahren mehr Fahrrad als Auto 

Breyer, die wie so viele ihrer Stadt den Klimaschutz quasi in ihrer DNA hat, berichtet stolz vom renommierten Verlag Lonely Planet, der Freiburg weltweit als Top-Reiseziel Nummer 3 für 2022 gelistet hat, direkt hinter Auckland und Taipeh. "Die charismatische, umweltbewusste Schwarzwaldmetropole kann vielen von uns noch ein paar Tricks zeigen, wie man verantwortungsbewusst lebt", heißt es dort.

Freiburg mit dem Rad und auf dem Longboard

Einen dieser Drehs zeigt Franziska Breyer auf einer Grafik zum Thema Modal Split, dem Mobilitätsverhalten: Wählten vor 40 Jahren gerade einmal 15 Prozent der Freiburger das Fahrrad als Verkehrsmittel, ist es jetzt jeder Dritte. Der Anteil der Autofahrer sank dagegen im gleichen Zeitraum von 39 auf 21 Prozent. "Damit sind wir von allen Städten in Deutschland Spitze. Wir haben aber immer noch zu viele Autozulassungen, wir haben immer noch zu viele Autos."

Vauban - Modellviertel in der Modellstadt

Wer mit der Straßenbahn vom Zentrum eine Viertelstunde Richtung Süden fährt, bekommt eine gute Vorstellung davon, wie ein Leben in einer Stadt auch fast ohne Fahrzeuge funktionieren könnte. Im Freiburger Modellstadtteil Vauban, einem ehemaligen französischen Kasernengelände, benannt nach einem Architekten des Sonnenkönigs Ludwig XIV., leben 5600 Menschen schon seit mehr als 20 Jahren so, wie es in Deutschland vielleicht bald Standard sein könnte. In einem Freiburg hoch drei, noch grüner, noch ökologischer, noch fahrradfreundlicher. 

Viertel fast ohne Autos - das Modellquartier Vauban in Freiburg
Viertel fast ohne Autos - das Modellquartier Vauban in FreiburgBild: Oliver Pieper/DW

In quietschbunten Passivhäusern. Mit Solaranlagen auf dem Dach und einem Wärmekraftwerk, das mit Holz betrieben wird und alle Bewohner mit Strom versorgt. Gepflastert mit breiten Fuß- und Fahrradwegen sowie Spielstraßen - ein wahres Paradies für Kinder. Die wenigen Menschen, die überhaupt ein Auto besitzen, verstecken diese förmlich in einem der beiden Parkhäuser am Rand des Viertels. Vauban wurde bei der Expo 2010 in Schanghai zu den sechzig lebenswertesten Quartieren weltweit geadelt.

Alles schnell erreichbar plus perfekte Verkehrsanbindung

Andreas Konietzny gehört zu den Bewohnern der ersten Stunde, 2001 zog der gebürtige Düsseldorfer und Architekt nach Vauban. Eine Entscheidung, die er nie bereut hat. "Meine Schwester, die damals in Kalifornien gelebt hat, hat bei einem Besuch mal notiert, wie viele Schritte sie braucht, um zum Supermarkt, zum Bach und zur Grundschule zu kommen. Ihre US-amerikanischen Freunde haben ihr nicht geglaubt, dass man hier alles in gefühlt 400 Metern erreicht. Dort muss man sich ja für alles ins Auto setzen."

Vauban-Bewohner Andreas Konietzny
"Man hört das Klappern vom Briefträger, sonst nichts. Man ist sofort entspannter hier" - Andreas KonietznyBild: Oliver Pieper/DW

Im Stadtteil der kurzen Wege, wo es alles außer Autos gibt, teilt sich Konietzny mit einer anderen Familie einen Wagen, der von seinem Haus 300 Meter entfernt in der Tiefgarage manchmal Wochen auf ihn wartet. Die Straßenbahnlinie 3 fährt im Minutentakt ins Zentrum. Die Touristen aus aller Welt, die jedes Jahr zu Zehntausenden Vauban bestaunen, quartieren sich bevorzugt im nachhaltigen Green City Hotel ein, das von Grünpflanzen umrankt ist und bei der Innenausstattung heimisches Holz verbaut hat.

Das Wohnen im Klimaschutzparadies hat seinen Preis

Doch der Traum vom perfekten grünen Leben in Freiburg und Vauban hat mittlerweile eine nicht zu unterschätzende Kehrseite: Er ist verdammt teuer. Nur in München und Frankfurt müssen die Mieter von ihrem Einkommen mehr fürs Wohnen abzwacken als in Freiburg. Die Kritik an den ehrgeizigen Vorschlägen des deutschen Klimaschutzministers entzündet sich vor allem daran, dass er für viele Deutsche schlichtweg nicht bezahlbar sei.

Kinderabenteuerhof für den Nachwuchs in Vauban
Kinderabenteuerhof für den Nachwuchs in Vauban - das Viertel gehört zu den kinderreichsten in ganz DeutschlandBild: Oliver Pieper/DW

In Vauban gibt es zwar mittlerweile Blocks mit bezahlbaren Wohnungen für Studenten, doch der Großteil der Anwohner passt perfekt ins Raster des gut betuchten grünen Bildungsbürgers. "Hier wohnen mittlerweile sehr viele Lehrer und Architekten wie ich, die Kehrseite ist die Gentrifizierung. Am Anfang war die Bewohnerstruktur noch eine andere. Es ist traurig mit anzusehen, dass Menschen mit kleinem Geldbeutel sich das hier nicht mehr leisten können", sagt Konietzny.

Kann Deutschland klimaschutzpolitisch noch mehr?

Der Mann, der sehnsüchtig auf die Klimaschutz-Offensive von Robert Habeck gewartet hat, arbeitet nur einen Katzensprung entfernt von Vauban, in einem Gebäude mit dem passenden Namen Sonnenschiff. Rolf Disch, Pionier der Solartechnik, preisgekrönter Architekt und Visionär, hat mittlerweile schon 77 Jahre auf dem Buckel.

Das Bürogebäude Sonnenschiff, zwischen Vauban und der Solarsiedlung
Das Bürogebäude Sonnenschiff, zwischen Vauban und der SolarsiedlungBild: Harold Cunningham/Getty Images

Wenn es um die Energiewende geht, brennt er aber immer noch so wie in den 80er Jahren, als er die erste Solartankstelle weltweit präsentierte, Weltmeister im Solarmobilfahren wurde und Australien mit seinem zu 100 Prozent solargetriebenen Gefährt durchquerte. "Ich sage schon lange, Deutschland könnte schon 2030 klimaneutral sein. Wenn man es denn wollte."

Das politische Fiasko in der Solarindustrie

Disch blickt stolz vom Balkon herunter auf die 59 bunten Holzbau-Reihenhäuser der sogenannten Solarsiedlung, sein Baby. Alles Plus-Energiehäuser, die der Architekt 1994 entwickelte, die also mehr Energie produzieren, als sie in ihrem Inneren verbrauchen. Eigentlich grotesk, wie weit Deutschland beim Klimaschutz schon vor knapp 30 Jahren war, diesen Vorsprung aber leichtfertig verspielte. Erst vor kurzem haben die Häuser die höchste Förderstufe erhalten, 37.500 Euro pro Wohneinheit.

Solararchitekt Rolf Disch (links) mit Mitarbeiter Tobias Bube
"Die Menschen sprechen immer vom Paradies, wenn man dem Auto die Dominanz in den Vierteln nimmt. Warum baut man dann nicht mehr Paradiese?" - Rolf Disch (links)Bild: Oliver Pieper/DW

Rolf Disch kann sich ziemlich in Rage reden, wenn er zu den deutschen Anstrengungen beim Klimaschutz gefragt wird. Gebetsmühlenartig bekniet er die Politik seit Jahrzehnten, mehr auf regenerative Energien zu setzen, und kramt eine Petition für die Plus-Energie hervor, die er vor zwölf Jahren mit 4500 Unterzeichnern an Bundeskanzlerin Merkel schickte.

Ohne Erfolg, im Gegenteil. 2012 beschloss Deutschland, die Förderung der Photovoltaik zu beschneiden, der Markt brach um 80 Prozent ein. "Man hat damals eine ganze Industrie und Tausende Arbeitsplätze kaputtgemacht, auch wir in Freiburg sind fast zusammengebrochen. Und das als Weltmeister in der Solartechnik. Ich verstehe es bis heute nicht."

Plus-Energiehäuser noch längst nicht Standard

Disch hat sich nicht unterkriegen lassen, im benachbarten Schallstadt bastelt er gerade an seinem nächsten Projekt. Im Südosten Freiburgs entstehen vier Plus-Energiehäuser mit insgesamt 83 Wohnungen. Finanziert von ihm selbst. "Ich weiß bislang nicht, wie das wirtschaftlich funktionieren soll, dass es sich auch trägt. Wir machen das aus Überzeugung."

Das ungenutzte Potenzial der Solarenergie

Eine Überzeugung, die er auch bei der Stadt Freiburg noch zu oft vermisst. Es ist ein wenig so wie mit einem Lehrer, der mit der 2 seines Schülers nicht zufrieden ist, weil er nicht alles dafür tut, eine 1 zu bekommen. Disch sagt: "Das Umweltschutzamt ist wirklich guten Willens. Aber man hat nicht das Gefühl, dass gemacht wird, was gemacht werden könnte. Auch hier in Vauban war es eher so, dass die Bürger die Stadt vor sich hergetrieben haben."

Deutschland investiert weiter in klimafeindliche Technologien

Beim Klimaschutz-Musterschüler Freiburg gibt es also noch einiges zu tun. Gerade beim Thema Bauen und Wohnen, das 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs ausmache, betont der Architekt. Wenn Rolf Disch Robert Habeck einen Rat geben könnte, dann wäre es dieser: noch radikaler die Energiewende voranzutreiben. Und sich von Industrien trennen, die für die Vergangenheit und nicht für die Zukunft stehen.

Klimaschutzminister Robert Habeck von den Grünen
Runter mit den Treibhausgasemissionen - Klimaschutzminister Robert Habeck von den GrünenBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

"In Wismar will der Bund eine Werft mit 600 Millionen Euro vor der Insolvenz retten, damit die Kreuzfahrtschiffe baut. Das ist Quatsch! Wenn das Ding erst mal losfährt, dann braucht es Unmengen an Energie. Wir benötigen stattdessen dringend die Arbeitskräfte, um Solar- und Windanlagen zu bauen und Häuser zu sanieren."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur