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PolitikEuropa

Grünes Licht für EU-Finanzsanktionen

Barbara Wesel
16. Februar 2022

Der Europäische Gerichtshof hat die Anwendung des "Rechtsstaatsmechanismus" bestätigt. Damit drohen finanzielle Sanktionen gegen Länder wie Polen und Ungarn, denen Verstöße gegen demokratische Regeln vorgeworfen werden.

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Die Türme des EuGH in Luxemburg
Die Türme des EuGH in LuxemburgBild: Arne Immanuel Bänsch/dpa/picture alliance

Das Urteil aus Luxemburg war keine Überraschung – schließlich hatten EU-Juristen den sogenannten Rechtstaatsmechanismus rechtlich so wasserfest wie möglich gemacht, als er Anfang 2021 in Kraft getreten war. Ungarn und Polen aber zogen umgehend dagegen vor Gericht. Jetzt wiesen die Obersten Richter ihre Klagen ab. Die Regelung widerspreche nicht dem EU-Recht, erklärten sie in ihrem Urteil lapidar, denn die Einhaltung europäischer Werte sei gerade eine Bedingung dafür, dass Länder ihre Rechte aus den EU-Verträgen in Anspruch nehmen dürfen. Damit können im Prinzip nach jahrelangen Ringen schließlich finanzielle Sanktionen wegen Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien verhängt werden, sobald Gelder aus dem EU-Haushalt davon betroffen sind.  

Das Parlament beklagt jahrelange Untätigkeit

Politischer Hintergrund ist der jahrelange Kampf von Parlamentariern und  EU-Mitgliedsländern mit Polen und Ungarn, denen ein fortschreitender Abbau demokratischer Prinzipien vorgeworfen wird. Der Streit schlug sich in einem guten Dutzend Vertragsverletzungsverfahren und Klagen in Luxemburg nieder. Die Regierung in Warschau wird vor allem beschuldigt, sie beschädige die Unabhängigkeit der Justiz. Dabei geht es etwa um ein strittiges Richterdisziplinargesetz, die politische Kontrolle bei der Berufung von Richtern und ihre Zwangspensionierung. Budapest wird vorgeworfen, systematisch EU-Gelder zu missbrauchen und der Korruption Vorschub zu leisten.

Ungarns Premier Viktor Orban
Ungarns Premier Viktor OrbanBild: AFP

"Jetzt hat die EU-Kommission keine Ausreden mehr, gegen diese Länder vorzugehen", sagt die Europaabgeordnete Katharina Barley. Sie hat die Klage einer Reihe von Abgeordneten gegen die Kommission unterstützt, mit der sie zum Eingreifen gezwungen werden sollte. Die Behörde in Brüssel hätte die Sanktionsregelung schon seit einem Jahr anwenden können, auch ohne auf die Bestätigung des Gerichtshofs zu warten, argumentieren sie. "Die EU muss dringend härter reagieren", fordert jetzt die SPD-Politikerin. In den vergangenen zwölf Jahren seien alle Versuche des sogenannten Dialogs im Sande verlaufen und insbesondere Premier Viktor Orban habe ungestört seine Autokratisierung des Landes vorangetrieben.  

Barley fordert, in Ungarn zunächst die Korruption aufs Korn zu nehmen: "Dort werden vier Prozent der ausgezahlten EU-Mittel beanstandet, das ist die höchste Rate in der EU." Alle Ungarn wüssten, dass Viktor Orban seine Familie und Freunde begünstige: "Sein bester Schulfreund, von Beruf Klempner, ist inzwischen Milliardär. Gelder gehen regelmäßig auch an seinen Schwiegersohn und Vater, all diese Fakten sind bekannt." Die Bürger würden erwarten, dass die EU hier endlich etwas unternehme.  

Nicht auf die Wahlen warten

Anfang April wird in Ungarn gewählt, die vereinigte Opposition kämpft um ihre Chance in einem politischen System, das gegen sie aufgestellt ist. Er vermute, sagt der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund, dass die Kommission den Termin abwarten werde: "Das wird das netteste Wahlgeschenk für Orban." Dabei dürfe die Wahlkampagne gerade nicht als neue Entschuldigung genutzt werden, der Regierung in Budapest die Gelder nicht endlich zu kürzen. 

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament (Archivbild)Bild: Julien Warnand/EPA Pool/AP/picture-alliance/dpa

Der Grünen-Abgeordnete glaubt auch, dass die Fälle fertig in der Schublade liegen und der Sanktionsmechanismus von Brüssel in wenigen Tagen ausgelöst werden könnte. Aber er ist wenig optimistisch, dass es so kommt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte in einer ersten Stellungnahme am Mittwoch: "Die Kommission begrüßt das Urteil und wird jetzt die Begründung sorgfältig prüfen." Eine Sprecherin in Brüssel führte aus, man werde Richtlinien für die Anwendung ausarbeiten und handeln, wenn die Gerichtsentscheidung bewertet und man sicher sei, dass die Fälle auch "funktionieren". Das klingt nicht direkt nach schnellem Handeln.

Selbst wenn die Kommission die Sanktionen auf den Weg bringt, werde es bis zu einem Ergebnis noch Monate dauern, erklärt die Abgeordnete Katharina Barley: "Es gibt ein offizielles Mitteilungsschreiben, dann eine Anhörung der Regierung durch die Kommission, dann eine Zeit zum Reagieren, dann kommt nochmal die Kommission." All dies ist sei mit Fristen versehen und werde ein zähes Verfahren.

Ein Einschreiten ist überfällig

Die ungarische Europaabgeordnete Catalin Cseh spricht von einem Paralleluniversum in der EU: "Ungarn handelt fortgesetzt in völligem Widerspruch zu den europäischen Regeln und die Kommission wartet höflich ab und schreibt Briefe." Sie hoffe wirklich, dass die Verzögerungstaktik jetzt ein Ende finde. Die Kommission habe zu lange nur Entschuldigungen gesucht und eine Reihe von Ländern hätten beobachtet, wie der Demokratieabbau ohne Folgen blieb. Auch in Slowenien und - vor der jüngsten Neuwahl - auch in Tschechien waren ähnliche Tendenzen erkennbar geworden. Die Ungarin Cseh ist frustriert: "Wenn ich im Land unterwegs bin, fragen mich Bürger immer wieder, ob der EU denn egal sei, was in Ungarn passiert." Es sei zunehmend schwierig geworden, ihnen die Untätigkeit Brüssels zu erklären.

Polens Präsident Andrzej Duda
Polens Präsident Andrzej DudaBild: Leszek Szymanski/PAP/dpa/picture alliance

Die großen Parteienfamilien im Europaparlament scheinen inzwischen bei der Rechtsstaatlichkeit ziemlich einig. Obwohl Viktor Orban jahrelang als Mitglied der christdemokratischen EVP deren Schutz genoss, findet auch der CSU-Abgeordnete Markus Ferber jetzt deutliche Worte: "Die Kommission muss im Streit mit Ungarn und Polen nun Farbe bekennen. Bisher konnte sie Maßnahmen (…) auf die lange Bank schieben. Das geht nun nicht mehr".

Heftige Reaktionen in Warschau und Budapest

Der polnische Justizminister Zbigniew Zibro schreibt auf Twitter: "Dieser Mechanismus wurde geschaffen, um Mitgliedsländer finanziell zu erpressen und wir sehen, dass er rücksichtslos eingesetzt werden wird". Dabei hatte Polens Präsident Duda noch vor wenigen Tagen einen Olivenzweig ausgestreckt und erklärt, auf die umstrittene Disziplinarkammer der Richter könne man vielleicht verzichten. In so gefährlichen Zeiten - wie der Ukraine-Krise - müsse man in der EU doch "zusammen stehen". Aber die Regierung scheint hier uneinig.

Seine ungarische Kollegin Judit Varga bezweifelte die Neutralität des Urteils: "Der Gerichtshof hat wegen des Kinderschutzgesetzes ein politisches Urteil gefällt." Sie bezieht sich auf die Kritik der EU im vergangenen Jahr, die durch dieses neue Gesetz eine Diskriminierung der LGBT-Gemeinschaft befürchtet. Und am Wochenende hatte Premier Viktor Orban schon von einem "Dschihad gegen Ungarn" gesprochen.  Das passt in den Erzählsatz, dass es hier um einen Kulturkampf und nicht um Sanktionen für korruptes oder demokratiefeindliches Regierungshandeln geht.