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Zehn Jahre Istanbul-Konvention

Stephanie Burnett
11. Mai 2021

Vor genau zehn Jahren haben sich europäische Staaten auf die Fahnen geschrieben, Gewalt gegen Frauen ein Ende zu setzen. Was haben sie seit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention erreicht?

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Eine Frau in Nahaufnahme bei einem Protest - auf der Wange trägt sie das Venussymbol
Bild: Patricio Realpe/NurPhoto/picture alliance

Jede dritte Frau in der Europäischen Union ab einem Alter von 15 Jahren war bereits Opfer physischer oder sexueller Gewalt. Jede Zweite hat nach Angaben der Europäischen Kommission bereits sexuelle Belästigung erlebt. Vor zehn Jahren beschloss der Europarat, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu bekämpfen. Das Ergebnis war der erste Vertrag seiner Art, der nicht nur rechtlich bindende Standards für die Bestrafung von Tätern festlegt, sondern auch für Schutzmaßnahmen und Prävention. 

Doch die Istanbul-Konvention - benannt nach der Stadt, in der der Vertrag 2011 erstmals unterzeichnet wurde - war in letzter Zeit heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Unter anderem durch die Türkei, die im März ihren Austritt ankündigte. Doch ungeachtet der Rückschläge gab es Fortschritte und noch immer unterstützen viele Staaten den Vertrag. Ohne die Türkei bleiben noch 44 Länder und die EU als Unterzeichner.

Was wurde bisher erreicht?

Nach Ansicht von Experten und Aktivisten ist die größte Errungenschaft der Konvention, dass viele Staaten ihre juristische Definition von Vergewaltigung geändert haben. Darunter sind Deutschland, Schweden, Dänemark, Kroatien und Griechenland. "Die damalige griechische Regierung hatte erkannt, dass die Istanbul-Konvention schon auf dem Stand war, auf den sie ihre eigenen Gesetze bringen wollte", sagt Anna Blus, die bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Bereich Frauenrechte arbeitet.

Infografik Karte Unterzeichnerländer zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen DE

In den meisten europäischen Ländern wird Sex ohne Zustimmung nicht als Vergewaltigung definiert. In vielen dieser Länder müssen bei der Tat Gewalt, Drohungen oder Einschüchterung eine Rolle gespielt haben - was bedeutet, dass die Anklage oder das Urteil oft auf das weniger schwerwiegende Verbrechen der sexuellen Nötigung zurückgestuft wird.

Protest gegen ein Urteil in einem Vergewaltigungsprozess in Madrid (22.06.2018)
Protest gegen ein Urteil in einem Vergewaltigungsprozess in Madrid (2018): Entrüstung über geringe StrafenBild: picture-alliance/NurPhoto/J. C. Lucas

Solche Schlupflöcher können bedeuten, dass es aus rechtlicher Sicht als Zustimmung zum Geschlechtsverkehr gewertet werden kann, wenn eine Person während einer Vergewaltigung nicht reagiert oder sich still verhält. Dabei ist es in der Psychologie hinlänglich bekannt, dass ein traumatisches Erlebnis eine Schockstarre auslösen kann oder dass sich Opfer nicht wehren - aus Angst, die Täter könnten sie töten oder anderweitig schwer verletzen.

So wurden  2018 in Spanien fünf Männer nach einer Gruppenvergewaltigung zunächst nicht wegen Vergewaltigung verurteilt. Laut spanischem Recht muss Gewaltanwendung oder Einschüchterung Teil der Tat gewesen sein, damit sie als Vergewaltigung gewertet wird. Dafür fehlten dem Gericht die Beweise.

2019 wurden ebenfalls fünf Männer nach der Gruppenvergewaltigung einer 14-Jährigen nicht für den Tatbestand der Vergewaltigung, sondern nur für sexuellen Missbrauch verurteilt. Das Opfer war zum Zeitpunkt der Tat bewusstlos - demnach mussten die Männer nach Auffassung des Gerichts weder Gewalt noch Einschüchterung anwenden. Beide Fälle lösten in Spanien Massenproteste aus.

Spanien hat Pläne angekündigt, seine Gesetze so zu verändern, dass sie eher der Definition entsprechen, dass Geschlechtsverkehr ohne Zustimmung eine Vergewaltigung ist. In den Niederlanden wird das Gleiche erwartet.

#MeToo sorgte für Rückenwind

Reformen, die dieser Definition von Vergewaltigung folgen, erhielten durch die #MeToo-Bewegung Aufwind. Forderungen nach Schutz gegen sexuellen Missbrauch und Belästigung sind seitdem lauter geworden. "Ich glaube definitiv, wenn es die #MeToo-Bewegung nicht gegeben hätte, wären wir jetzt nicht an diesem Punkt", sagt Blus mit Blick auf Gesetzesänderungen seit  Beginn der Debatte Ende 2017.

Protestierende Menschenmenge vor dem Bosporus, im HIntergrund die Skyline von istanbul
In Istanbul - dem Geburtsort der Konvention - sorgte der Austritt der Türkei aus dem Vertrag im März für ProtesteBild: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Hillary Margolis, Forscherin bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch betont, dass die Istanbul-Konvention geholfen hat, verschiedene Gewalttypen per Gesetz zu kriminalisieren, die vorher juristisch gesehen keine Verbrechen waren - darunter erzwungene Kinderehen, weibliche Genitalverstümmelung und Stalking.

Ein weiterer Erfolg ist, dass einige Länder ihre Angebote ausgeweitet haben, um Überlebende häuslicher Gewalt zu erreichen. "Finnland hat zum Beispiel einen Notruf für Opfer häuslicher Gewalt eingerichtet, der sieben Tage in der Woche 24 Stunden lang besetzt ist", so Anna Blus von Amnesty International. "Es hat die Zahl der Notunterkünfte für Menschen, die aus so einer Lage fliehen, erhöht." Die Behörden hätten erkannt, dass der Staat dafür verantwortlich ist und einige Schritte in diese Richtung unternommen, sagte Blus der Deutschen Welle.

Leitet "wie der Polarstern"

Die Istanbul-Konvention steche wirklich hervor, findet Hillary Margolis von Human Rights Watch, weil sie sehr eindeutig sei: Das Abkommen formuliere klare Erwartungen, gebe klare Schritte vor, um diese Erwartungen zu erfüllen und zeige klare Wege auf, diese Schritte zu überwachen.

Hinsehen und handeln

Auch wenn das erklärte Ziel darin besteht, Gewalt gegen Frauen und Mädchen ein Ende zu setzen, halten es auch die Verfechterinnen für illusorisch, dies binnen eines Jahrzehnts zu erreichen. "Das abkommen selbst ist sehr ehrgeizig. Alles davon zu erreichen, wäre einfach unglaublich", sagt Margolis.

"Es ist wie ein Polarstern - er leitet uns und bringt Regierungen dazu, weiterzumachen. Aber ich glaube nicht, dass irgendjemand erwartet hat, dass in den Ländern jetzt alles perfekt ist." In jedem Land gebe es noch Luft nach oben.

Warum gibt es Widerstand?

Doch nicht nur die türkische, auch andere Regierungen kritisieren den Vertrag mittlerweile. Polen hat ebenfalls die Absicht auszutreten, was vielen Konservativen gefällt. Auch Bulgarien, Ungarn und die Slowakei zeigen sich distanziert.

Ein zentraler Grund dafür sind politisch motivierte Falschinformationen, die in den vergangenen Jahren über die Istanbul-Konvention verbreitet wurden: So wird etwa behauptet, die Konvention verpflichte Regierungen, die gleichgeschlechtliche Ehe und weitere  Rechte von LGBT+-Menschen zu unterstützen.

Doch darum gehe es in dem Vertrag überhaupt nicht, sagen Unterstützer. "Anzudeuten, dass der Vertrag zum Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe befürwortet - was einer der Kritikpunkte ist, den Regierungen angeführt haben - ist schlichtweg nicht wahr", sagte Daniel Höltgen, Sprecher der Generalsekretärin des Europarates, der DW im März. Es stecke "keine andere Agenda" dahinter, als Gewalt gegen Frauen auszumerzen. "Es scheint, als ob das Wort 'Gender' Irritationen auslöst und zu wilden Spekulationen führt", so Höltgen.

Trotz der Rückschläge hoffen Aktivistinnen wie Blus und Margolis, dass noch mehr Länder dem Abkommen beitreten und dass die Staaten, die die Istanbul-Konvention unterzeichnet oder ratifiziert haben, sich weiter für Reformen einsetzen.

"Es geht bei der Konvention darum, Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu stoppen. Punkt! Das ist seine einzige Absicht. Dahinter steckt keine Ideologie, Religion oder politische Meinung", betont Hillary Margolis. "Es geht schlichtweg darum, einen stärkeren Schutz für alle Frauen und Mädchen zu haben. Und das ist etwas, das wir alle wollen."

Aus dem Englischen adaptiert von Uta Steinwehr.