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Carlo Petrini: Terra Madre

20. Februar 2011

In vielen Ländern der Erde ist er ein Held: Carlo Petrini, Gründer der Slow-Food- und Terra-Madre-Bewegung. In seinem neuen Buch erklärt er, warum eine neue Agrarordnung so wichtig ist für eine menschlichere Zukunft.

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Stilleben
Bild: Slow Food/Stefan Abtmeyer

Von der britischen Zeitung "The Guardian" wurde er vor einigen Jahren zu den 50 Menschen gezählt, die die Welt verändern können: Carlo Petrini, Gründer der Slow-Food- und Terra-Madre-Bewegung. Seine mehr als 100.000 Mitstreiter und Mitstreiterinnen kämpfen für eine neue Agrarordnung, für die traditionelle Zubereitung von köstlichem, regionalem und pestizidfreiem Essen sowie für die faire Behandlung und Bezahlung der Bauern, Fischer und Lebensmittelerzeuger.

Der Italiener Carlo Petrini, Gründer der Slowfood-Organisation (Foto: AP)
Carlo PetriniBild: AP

DW-WORLD.DE: In Ihrem neuen Buch "Terra Madre" verbinden Sie das Thema Genuss mit Würde und Respekt. Warum gehört das für Sie zusammen?

Carlo Petrini: Diese Dinge gehen seit jeher Hand in Hand. Der Genuss ist doch die Vorbedingung dafür, dass wir überhaupt das, was wir essen, achten können, dass wir den Menschen, die uns begegnen, mit Achtung begegnen und dass wir uns selbst auch wertschätzen.

Es wird Ihnen von Kritikern vorgeworfen, dass Sie den Wert des Genusses hervorheben in einer Welt, in der eine Milliarde Menschen hungern und froh wären, überhaupt etwas zu essen zu haben.

Diese Kritiker haben nicht richtig ermessen, dass Genuss nicht eine Art Privileg für die Reichen ist, sondern ein Recht von allen. Auch in den armen Ländern, wo unsere Bewegung stark ist, in den Ländern, wo es Probleme gibt mit Unterernährung, Hunger, bereiten die einfachen Leute Gerichte zu, um einander Genuss zu bereiten. Genuss ist also ein Recht für alle und nicht das Vorrecht von einigen wenigen.

"Terra Madre" besteht aus sogenannten Lebensmittelbündnissen, also Erzeugern und denen, die ihre Produkte kaufen. Wie viele von diesen Lebensmittelbündnissen gibt es denn inzwischen? Und können Sie vielleicht an einem Beispiel sagen, wie sie funktionieren?

Terra Madre ist ein lockeres Geflecht, ein Netzwerk von Gemeinschaften des Essens, die alle gemeinsame Ziele haben: Sie kämpfen für den Erhalt der Biodiversität, für kleinräumige Landwirtschaft, für die Kleinbauern und für den Umweltschutz. Das Netzwerk gibt es in 163 Ländern, mindestens 6000 derartige Gemeinden gibt es schon. Sie werden durch eine stark ausgeprägte Anarchie zusammengehalten und sie sind nicht geregelt wie Vereine, sondern sie sind ein Geflecht, ein Netzwerk, das durch gemeinsame Überzeugungen zusammengehalten wird.

Tomaten
"Genuss ist nicht nur ein Privileg der Reichen, sondern ein Recht von allen"Bild: Slow Food/Stefan Abtmeyer

Ebenso wie Sie sagen auch die FAO und andere UN-Organisationen, wir müssen mehr auf die Kleinbauern setzen, sonst können wir die Weltbevölkerung in Zukunft nicht ernähren. Glauben Sie, dass solche Lebensmittelbündnisse, eine Bewegung wie "Terra Madre" die Lebensmittelindustrie und großflächige Agrar-Industrie tatsächlich ersetzen kann, oder soll sie industrielle Lebensmittelproduktion ergänzen?

Eine interessante Frage. Ich glaube, dass beide, also sowohl die industrielle Fertigung wie auch die kleinen Erzeuger zusammen wirken müssen, um das zu erreichen, was wir wollen, eine Art Zusammenwirken der kleinen Gemeinschaften und der Großerzeuger. Denn bereits heute lösen Kleinbauern Probleme, die die große Agro-Industrie nicht zu lösen vermag. Denn die Kleinbauern haben die Ortskunde, sie sind verwurzelt, sie haben einen pragmatischen Ansatz, und deswegen ist es so unendlich wichtig, diese auch zu schützen. Alle legen natürlich Lippenbekenntnisse ab zum Schutze der Kleinbauern. Dann wird aber doch immer wieder gesagt, angesichts des Welthungers müsse man ganz auf die Großindustrie, auf die industrielle Erzeugung setzen.

Hier sage ich, dieser Ansatz ist verkehrt. Es kann nicht nur die Großindustrie sein, sondern alle müssen zusammenwirken. Vor allem die Kleinbauern müssen besonders gestärkt und geschützt werden, weil sie die Schwächsten sind. Und deshalb ist es das Hauptanliegen von Terra Madre, diese kleinen Erzeuger zu verteidigen und hier für Biodiversität auch im Sinne dieses Schutzes von Kleinerzeugern zu wirken.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass sich zum Beispiel in Indien jedes Jahr viele Kleinbauern umbringen, weil sie hochverschuldet sind und jedes Jahr Saatgut neu kaufen müssen. Überall auf der Welt sind der größte Teil der Hungernden Kleinbauern. Wie kann man den Bauern, die nicht wirklich von ihren Feldern leben können, helfen?

Wo es zu diesen Selbstmorden kommt, zu dieser Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, da beobachten wir ein Vorherrschen der industriellen Erzeugung, dort herrscht die Logik der Großindustrie vor, die auf Chemie und genetisch veränderten Organismen beruht. Deswegen leiden dort die Kleinbauern so sehr, weil sie eben ganz im perversen Griff der großindustriellen Erzeugung stehen. Da hingegen, wo die Kleinbauern noch im Territorium verwurzelt sind, wo sie einen ungeschmälerten Bezug zu den Gegenden, zu den lokalen Gebräuchen haben, dort gibt es viele kleine Gemeinschaften, die tatsächlich leben und überleben können. Sie nutzen auch die modernen Kommunikationsmöglichkeiten, zum Beispiel das Radio.

Terra Madre Treffen 2004 (Foto: Archivio Slow Food)
"Ein weltweites Netzwerk von Gemeinschaften des Essens"Bild: Archivio Slow Food

Ich habe soeben eine ländliche Gemeinschaft in Indien kennengelernt, wo etwa 100 Frauen ein solches Netzwerk aufgebaut haben. Sie betreiben biologischen Anbau und sie verbreiten Kenntnisse und Hinweise über einen eigenen kleinen Radiosender. Das ist ein Beispiel dafür, dass es durchaus funktionieren kann. Diese kleinen Gemeinschaften verwenden auch das Internet, sie verschließen sich also keineswegs den Errungenschaften der neuen Zeit, sie sind nicht rückwärtsgewandt, um wiederherzustellen, was in der guten alten Zeit oder besser gesagt in der schlechten alten Zeit vorherrschte, nein, es geht darum eben, dieses Geflecht an Gemeinschaften weiterzubringen.

Aber viele der jungen Leute möchten gerne in die Stadt. Sie haben das Gefühl, sie können dort mehr verdienen, auch wenn sie vielleicht in einer Millionenstadt wie beispielsweise Delhi gar keine Arbeit finden und noch mehr hungern.

Ich werde nächsten Sonntag mit einer UN-Organisation in Rom eine Konferenz zu genau diesem Thema abhalten – IFAD – auch Kofi Annan wird da sein. Es wird ja immer gesagt, wir müssen die Menschen aufs flache Land zurückbringen. In der Tat ist das das zentrale Thema, das es anzugehen gilt. Wir haben hier einen ganz entscheidenden Wandel festzustellen in Europa etwa, wo am Ende des ersten Weltkriegs noch etwa 50 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebten, haben wir heute nur noch einen Landwirtschaftsanteil von drei bis fünf Prozent. In unterschiedlichen Ländern muss man das Thema unterschiedlich angehen. In armen Ländern haben wir andererseits ganz andere Verhältnisse. In afrikanischen Ländern sind es 60 oder noch mehr Prozent der Menschen, die auf dem flachen Land leben, in Lateinamerika sind es auch noch 60 bis 70 Prozent.

Blick auf São Paulo mit dem Bergland im Hintergrund (Foto: dpa)
Metropolen wie São Paulo ziehen die jungen Leute anBild: picture-alliance/ ZB

Was zieht die Leute an, oder wie könnte man die Menschen davon abhalten, in die Städte zu ziehen? Nun, die Städte verheißen für die jungen Menschen ein geselliges Leben, verschiedene Attraktionen, Moderne, all die Möglichkeiten, die die Städte bilden und die man glaubt auf dem Land nicht zu haben. Nun haben viele Nichtregierungs- und Regierungsorganisationen gemeint, es reiche aus, Wirtschaftsformen zu ändern und nachhaltiges Wirtschaften auf dem flachen Land zu fördern und dann würden die Leute wieder zurückkehren. Das stimmt nicht. Es ist ja vor allem das gesellschaftliche Leben, das die Menschen in die Städte zieht. Hier muss man ansetzen.

Man muss also auch auf dem flachen Land außerhalb der Städte solche Formen und Möglichkeiten schaffen, um die Annehmlichkeiten des städtischen Lebens auch auf dem flachen Land zu ermöglichen. Man muss ermöglichen, dass Kino, Theater, Musik, solche Zerstreuungs- und Geselligkeitsformen auch wieder auf dem flachen Land möglich sind. Denn wenn das nicht geschieht, dann beobachten wir zunehmend das, was wir heute schon sehen, dass viele von diesen kleinen Orten oder Gemeinden praktisch zu Schlafstädten geworden sind. Dort findet kein geselliges Leben mehr statt.

Herr Petrini, vor über 20 Jahre haben Sie mit der Idee von Slow Food einen Gegenpunkt setzen wollen gegen Fastfood, gegen Dinge, die immer schneller werden. Jetzt haben wir eine Welt, in der es das Internet gibt, Smartphones, ständig müssen alle erreichbar sein. Wie sehen Sie die Atmosphäre jetzt für solche gesamtheitlichen Ideen und langsames Denken, gründliches Denken?

Buchcover Carlo Petrini: Terra Madre (Hallwag)

Die Langsamkeit ist ja kein absoluter Wert. Übermäßige Langsamkeit schlägt in Dummheit um. Langsamkeit gilt es in homöopathischen Dosen zu genießen. Das Entscheidende ist, wir sind es selbst, wir müssen die Rhythmen bestimmen, in denen wir vorgehen. Heute zum Beispiel bin ich absolut slow, ich habe zwei Interviews und lege mich dann aufs Ohr. Morgen dagegen bin ich sehr fast, ich muss sehr gut funktionieren, denn da sind tausende Dinge zu erledigen. Das Entscheidende ist, ich selbst muss entscheiden können, ob ich das mache und wie viel ich mache.

Terra Madre hat diesen Weg eingeschlagen von der Frage des Essens über die Frage der Landwirtschaft hin zur Umweltpolitik. Dieser lange Marsch ist aber noch keineswegs beendet, wir müssen diesen Weg weitergehen, denn dieses Thema steht wirklich im Herzen der heutigen Weltpolitik. Die Frage des richtigen Essens ist der Ausgangspunkt für so vieles andere. Wir Katholiken, Protestanten, Christen und auch andere neigen dazu, das Essen als eine Zutat, als etwas Unwesentliches abzutun. Aber das ist falsch. Denn das Essen gibt uns die Lebensenergie. Wir können ja nur leben, weil wir essen. Deshalb ist die Frage des richtigen Essens geradezu notwendiger Ausgangspunkt für politische Erwägungen.


Das Gespräch führte Anke Rasper
Redaktion: Gabriela Schaaf


Carlo Petrini: Terra Madre. Für ein nachhaltiges Gleichgewicht zwischen Mensch und Mutter Erde, Gräfe und Unzer Verlag, 188 Seiten, 17,90 Euro.