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Politik

Überfällig und richtig

Kommentarbild PROVISORISCH | Rainer Hermann, FAZ & Klett-Cotta
Rainer Hermann
27. Oktober 2019

Die Demonstranten im Libanon fordern nicht nur Reformen, sondern ein neues politisches System. Zu Recht, denn das jetzige dient nur religiösen Anführern, meint Rainer Hermann von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

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Libanon | Demonstranten in Beirut
Bild: Getty Images/AFP/H. Eid

Wenige Funken haben gereicht, um den Unmut der Libanesen zu entzünden und sie laut schreien zu lassen: "Genug ist genug!" Die ersten Funken waren die Waldbrände gewesen, die die unfähigen Behörden nicht hatten löschen können. Danach versprühten neue Steuern auf Telefongespräche über das Internet weitere Funken. Das trieb die jungen Menschen auf die Straße.

Über viele Jahre hatten sich Verzweiflung und Zorn aufgebaut. Jetzt haben sie genug von der dramatischen Ungleichverteilung in ihrem Land, von der Korruption und der miserablen Regierungsführung. Die Demonstranten wollen sich nicht länger mit ein paar Scheinmaßnahmen der Regierung abspeisen lassen. Sie haben vom frühen Scheitern anderer Protestbewegungen gelernt.

Sie wollen nicht eine neue Regierung, sondern ein neues politisches System. Nicht länger wollen sie einige Dutzend und die immer gleichen Familien an der Spitze des Libanon sehen. Seit siebzig Jahren sind diese Familien auf Kosten der großen Mehrheit des Landes immer reicher geworden - sie waren aber nicht in der Lage, die Grundversorgung der einfachen Bürger mit staatlichen Dienstleistungen sicherzustellen.

Viel Macht und Geld für einige wenige

Heute meldet sich die Mittelklasse zu Wort. Ihre Substanz ist aufgezehrt. Wer nicht zur Elite gehört, hat auch kaum Chancen aufzusteigen. Recht haben die Protestierenden, wenn sie diese politische Ordnung in Frage stellen. Denn dieser Staat ist für nichts gut. Diese Protestwelle war überfällig.

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Rainer Hermann ist Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"Bild: Helmut Fricke

Profiteure der bisherigen Ordnung sind die Anführer der konfessionellen Gruppen im Libanon. Denn alle Ämter werden nach einem konfessionellen Schlüssel vergeben, der diesen Anführern und einigen wenigen Familien viel Macht und Geld bringt. Ist der Wettbewerb ausgeschaltet, werden aber viele um ihre Chancen betrogen. Das begünstigt die Korruption und fördert die ohnehin dramatische Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen.

Hisbollah trägt Verantwortung für die Missstände

Stürzte die bisherige Ordnung, würden aus den Profiteuren Verlierer. Es überrascht daher nicht, dass die konfessionellen Anführer Schlägertrupps auf die Straße schicken, um die Proteste zu diskreditieren und Demonstranten abzuschrecken. Ebenfalls überrascht nicht, dass die schiitische Hisbollah große Anstrengungen unternimmt, die Proteste zu ersticken. Als bewaffnete Miliz und als politische Partei war sie in den vergangenen Jahren die größte Gewinnerin der politischen Ordnung.

Denn sie hatte sich als Vetomacht etabliert, gegen deren Willen nichts geht. Daher trägt sie eine sehr große Verantwortung für die Missstände und die schreiende Ungerechtigkeit im Libanon. Das hatte sie bisher nicht interessiert, weil sie über "Widerstand" gegen Israel im Dienste Irans schwadronierte, während ihr die Lebensbedingungen der Libanesen gleichgültig geblieben sind.

Heute kämpfen die Libanesen, einfache Libanesen, für einen besseren Libanon. Sollten sie sich nicht einschüchtern lassen, könnte diesmal ihr Funke auf andere Länder der arabischen Welt überspringen. Auch dort ist die grundlegende Transformation politischer Ordnungen überfällig.