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PolitikEuropa

Gaspar Miklos Tamas: Zum Tod von Orbans schärfstem Kritiker

16. Januar 2023

Nach langer und schwerer Krankheit ist der linke Philosoph und Publizist Gaspar Miklos Tamas gestorben. Mit ihm verliert Ungarn eine einzigartige und prägende Persönlichkeit.

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Gaspar Miklos Tamas
Der linke Philosoph und Publizist Gaspar Miklos Tamas - hier als Redner während einer Demonstration im Dezember 2012 gegen die Orban-RegierungBild: PuzzlePix/IMAGO

TGM - unter diesem Kürzel, den Initialen seines Namens, kannte man ihn in Ungarn seit vielen Jahrzehnten. Er war eine fast ikonische Gestalt in seinem Land: ein Held des Kampfes gegen die stalinistisch-realsozialistische Diktatur. Einer der Architekten des Systemwechsels, der entscheidend dazu beitrug, Ungarns Weg in die Freiheit zu ebnen - und der dennoch immer in Opposition blieb. Und - einer der unerbittlichsten Kritiker des Orban-Systems, den selbst Orban respektierte: der radikal linke, antitotalitaristische Philosoph und Publizist Gaspar Miklos Tamas.

Als Tamas am Sonntag (15.01.2023) in Budapest nach langer und schwerer Krankheit starb, geschah etwas, was in Ungarn - das wie kaum ein anderes Land in Europa politisch und gesellschaftlich gespalten ist - eigentlich undenkbar scheint: Nicht nur die Orban-kritische Öffentlichkeit widmete dem Philosophen bewegende Nachrufe - auch regierungsnahe Medien schrieben anerkennend über ihn, darunter auch die quasi-amtliche Stimme der Orban-Regierung, die Tageszeitung Magyar Nemzet. Viktor Orban selbst stellte ein Porträtbild von Gaspar Miklos Tamas auf seine Facebook-Seite und schrieb dazu: "Der alte Freiheitskämpfer ist gegangen. Gott sei mit Dir, TGM!" Wohl auch Ausdruck des Respekts gegenüber einer seltenen Persönlichkeit: Tamas war zeitlebens unbestechlich, zutiefst menschlich und integer - und er teilte niemals unter der Gürtellinie aus.

Tschechien Prag | Gründungsgipfel Europäische Politische Gemeinschaft | Viktor Orban, Ungarn
Einst ein Bewunderer des Philosophen Gaspar Miklos Tamas: Ungarns Premier Viktor OrbanBild: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Gaspar Miklos Tamas wurde 1948 im siebenbürgischen Klausenburg (rum. Cluj, ung. Kolozsvar) geboren und stammte aus einer ungarisch-jüdischen Familie. Seine Eltern - der Vater Journalist und Theaterdirektor, die Mutter Krankenschwester - waren vor dem Zweiten Weltkrieg in der illegalen Kommunistischen Partei Rumäniens aktiv gewesen und hatten jahrelang im Gefängnis gesessen. Seine Mutter entging der Deportation nach Auschwitz im von Ungarn besetzten Nordsiebenbürgen 1944 nur, weil sie wegen ihrer Parteiaktivitäten inhaftiert war.

Die Securitate entdeckt einen Regimegegner

Im Nachkriegs-Rumänien lehnten Tamas' Eltern es ab, Parteikarrieren zu machen. Sie lebten in einfachen, nahezu ärmlichen Verhältnissen und waren vom stalinistischen System schnell desillusioniert. Gaspar Miklos Tamas, einziges und spätes Kind seiner Eltern, vergrub sich schon früh in Berge von Büchern, von denen er zeitlebens umgeben war. Sein phänomenales Gedächtnis und seinen legendären Wissensschatz führte er selbst unter anderem darauf zurück, dass er als Kind für seinen Vater, der viel arbeitete, heimlich ausländische Radiosendungen habe hören und sie ihm hinterher möglichst wortgetreu wiedergeben müssen.

Nicolae Ceausescu
Der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu. Gaspar Miklos Tamas weigerte sich, Lobhudeleien auf ihn zu schreibenBild: Barbara Pflaum/picture alliance

Tamas studierte Philosophie und arbeitete anschließend als Redakteur einer Wochenzeitung für Literatur und Kunst. Weil er sich weigerte, Lobhudeleien auf den rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu zu verfassen, geriet er Anfang der 1970er Jahre ins Visier der berüchtigten Geheimpolizei Securitate, wurde verhaftet, regelmäßig verhört und bekam Schreibverbot. Er sei von der Securitate zum Mitglied der demokratischen Opposition erklärt worden, witzelte er oft über seinen Weg zum Regimegegner. Nach einem jahrelangen Leben in Existenznot und Marginalisierung emigrierte er 1978 ins benachbarte Ungarn, wo ein etwas freieres Klima herrschte - wenngleich der als liberal geltende "Gulaschkommunismus" nur ein Mythos war.

Zweifel am Systemwechsel

Tamas arbeitete zunächst an einer Budapester Universität, erhielt jedoch auch in Ungarn bald Berufsverbot - denn er war unter anderem Mitbegründer der Untergrundzeitschrift Beszelö (Der Sprecher), veröffentlichte in ihr regelmäßig regimekritische Essays und wurde einer der führenden Köpfe der antikommunistischen Opposition in Ungarn. 1988 gründete er den Bund Freier Demokraten (SZDSZ) mit, die wichtigste antikommunistische liberale Partei Ungarns in der Wende- und Nachwendezeit, und war für sie von 1990 bis 1994 Parlamentsabgeordneter.

Ungarn: 30 Jahre nach der Wende

Ursprünglich ein libertärer Linker mit Sympathien für anarchistische Ideen, hatte er sich in der Wendezeit zu einem Liberal-Konservativen gewandelt und mit seinen Essays und Schriften die postkommunistische Politik Ungarns maßgeblich beeinflusst. Doch ihm kamen schnell Zweifel am Systemwechsel - Ungarn war in den Nachwendejahren geprägt von Massenarbeitslosigkeit, hoher Inflation, einer Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, einem betrügerischen Privatisierungsprozess und Korruptionsaffären der alten wie der neuen Elite. Unter dem Eindruck dieser Fehlentwicklungen kehrte Tamas um die Jahrtausendwende zu seinen linken Wurzeln zurück - und sah sich seitdem als undogmatischer Marxist und radikaler Linker, selbstverständlich ohne sich jemals die Diktatur zurückzuwünschen.

Postfaschismus

Als einer der ersten Intellektuellen Europas sah er bereits zu jener Zeit - als viele noch vom endgültigen Sieg der liberalen Demokratie überzeugt waren - politische Entwicklungen voraus, die heute mit Begriffen wie Populismus oder Illiberalismus verknüpft sind. Tamas nannte es damals "Postfaschismus". Im Jahr 2000 schrieb er prophetisch: "Mit dem Begriff 'Postfaschismus' möchte ich nicht behaupten, dass die SS noch einmal durch Europa marschieren wird, sondern dass alle Ziele der rechten totalitären Maschinerie der Vorkriegszeit heute durch parlamentarische und demokratische Prozesse erreicht werden." Er hatte das Wesen und die Wirkungsweise des Orban-Systems damit um ein Jahrzehnt vorweggenommen.

Flash-Galerie Ungarn EU-Präsidentschaft Demonstration Verfassungsgericht 2010
Protestdemonstration gegen die Orban-Regierung im November 2010Bild: AP

Ungarns Premier war einst ein großer Bewunderer von Tamas gewesen - und hat immerhin seinen einzigen Sohn Gaspar nach ihm benannt. Bis heute verhüllt er seine Wertschätzung für Tamas nicht, bisweilen zitiert er ihn sogar in seinen Reden. Doch das hinderte Orban nicht daran, staatliche Maßnahmen gegen Tamas zumindest zu billigen: Als einer der ersten Intellektuellen Ungarns nach dem Machtantritt Orbans im Jahr 2010 wurde Tamas aus dem Philosophischen Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften entlassen, zusammen mit anderen unliebsamen Kollegen. Tamas lebte seitdem zunehmend in ärmlichen Verhältnissen - ohne selbst darüber öffentlich zu klagen.

Auf Rebellion konditioniert

In seinen vielbeachteten Essays, Schriften, Interviews und Reden auf Demonstrationen klagte Tamas seit 2010 immer wieder den antisozialen und antihumanistischen Charakter des Orban-Systems an - vor allem die rassistische Stimmungsmache gegen arme Menschen, Roma oder Flüchtlinge. Doch er sparte auch nicht mit Kritik an der Opposition in Ungarn, zum Beispiel daran, dass sie es nicht wagte, gegen Orbans Migrationspolitik Stellung zu beziehen.

Fast alles, was Tamas schrieb und öffentlich äußerte, wurde in Ungarn breit und kontrovers diskutiert. Praktische Konsequenzen hatten seine Ideen und Plädoyers in den vergangenen Jahren nur in den seltensten Fällen. Von der tagesaktuellen politischen Publizistik nahm Tamas deshalb 2020 Abschied, schrieb nur noch längere, theoretische Abhandlungen und gab nur wenige Interviews. Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Ungarn, Europa und der Welt sah er zunehmend düsterer und pessimistischer. Verbittert war er dennoch nie. Über sich selbst sagte er einmal: "Ich bin auf Rebellion und Widerstand konditioniert. Nicht jeder kann so leben. Ich bin ein glücklicher Mann. Der Freiheitsmangel und die Existenz vermeidbaren Leids haben in mir immer kalte Wut und bitteren Spott ausgelöst."

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Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter