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Günter Grass wird 85

Cornelia Rabitz15. Oktober 2012

Nobelpreisträger und Tabubrecher: Grass war und ist ein Unbequemer. Einer, der polarisiert und provoziert, ein kritischer Bürger und politisch engagierter Zeitgenosse - vor allem aber ein großer Autor.

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Günter Grass 2009 (Foto:AP/dapd)
Bild: dapd

Dieses Leben voller Höhen und Tiefen, voller Sternstunden und Verwerfungen beginnt am 16. Oktober 1927. Günter Grass kommt in den sprichwörtlichen "kleinen Verhältnissen" zur Welt. Seine Eltern betreiben in Danzig einen Kolonialwarenladen, die Kundschaft ist arm, lässt auch mal anschreiben, die Wohnung ist eng, die Umgebung katholisch. "Eine Kindheit zwischen Heiligem Geist und Hitler", schreibt der Grass-Biograph Michael Jürgs. Siebzehnjährig erlebt Grass das Grauen des Zweiten Weltkrieges, 1944 als Flakhelfer, dann in der Waffen-SS. Davon aber wird er erst Jahrzehnte später erzählen - und einen Skandal auslösen. Vorerst gilt es, die Kriegszeit zu überleben.

Anfänge eines Erfolgsautors

1952 - die Bundesrepublik ist jung, Grass ist es auch. Er beschäftigt sich mit der Kunst, studiert Bildhauerei und Grafik, spielt in einer Jazzband mit, reist, und geht schließlich 1956 für eine Zeit nach Paris. Kein glänzendes, eher ein bescheidenes Leben führt er dort zusammen mit seiner ersten Frau - aber es ist der Beginn einer großen Schriftstellerkarriere. Grass entwirft hier seinen Roman "Die Blechtrommel", der 1959 erscheint, für Aufruhr in der deutschen Spießigkeit jener Jahre sorgt und dann doch noch ein Welterfolg wird, vielfach übersetzt, auch verfilmt. Genau vier Jahrzehnte später wird sein Schöpfer dafür - und für sein Lebenswerk - den Literaturnobelpreis erhalten.

Der Schriftsteller und Literaturnobelpreistraeger Guenter Grass waehrend einer Lesung in Göttingen (Foto: AP)
50 Jahre nach Erscheinen der "Blechtrommel": Günter Grass liestBild: AP

Kreativ, produktiv

Günter Grass hat Dramen, Gedichte und vor allem Belletristik geschrieben, die Liste seiner Werke ist lang. Bekannte Romane wie "Hundejahre", oder "örtlich betäubt" sind darunter, "Der Butt", "Die Rättin", "Unkenrufe", "Im Krebsgang" und viele andere. Immer geht es darin um politische Verhältnisse und gesellschaftliche Umbrüche: die Rolle von Intellektuellen beim Aufstand in der DDR 1953 beispielsweise, die Studentenrevolte der 1968er, Bundestagswahlkämpfe, Zukunftsfragen, Ost-West-Politik, den Untergang eines Flüchtlingsschiffes 1945 auf der Ostsee.

Die Aussöhnung mit Polen blieb dem gebürtigen Danziger immer ein Herzensanliegen. Die gleiche Begeisterung wie für die Geschichte um den trommelnden Oskar Matzerath haben die späteren Bücher zwar nie wieder erreicht, doch waren sie allesamt große Erfolge - und Gesprächsstoff für die literarisch interessierte Republik. Manchen Lesern schienen sie freilich zu sperrig: zu viel Politik, zu wenig Kunst. 

Der damalige Spitzenkandidat Gerhard Schröder mit SPD-Chef Willy Brandt und Autor Günter Grass auf einem Künstler-Gartenfest am 16.6.1985 (Foto:dpa)
Drei, die sich schätzten: Gerhard Schröder, Willy Brandt und Günter Grass 1985 (von links)Bild: picture-alliance/dpa

Moral und Politik

Günter Grass ist dennoch bis heute ein kreatives und vielen Künsten verpflichtetes Multitalent geblieben: Romanautor, Lyriker, Grafiker, Bildhauer und, gelegentlich, auch Illustrator seiner eigenen Bücher. Aufsehen erregt er freilich auch durch seine politischen Einmischungen - lange Jahre galt er in Deutschland als eine Art "moralische Instanz". Seit 1961 engagierte er sich für die SPD, ohne Parteimitglied zu sein, unterstützte 1969 Willy Brandt im Wahlkampf, trat Jahre später doch in die Partei ein, gab sein Mitgliedsbuch im Streit um die Neugestaltung des Asylrechts zurück.

Er blieb aber, was er war: ein gelegentlich etwas polternder, kritischer Zeitbeobachter, ein unabhängiger Linker, der sich kraft seines Renommees wortgewaltig einmischte, gegen die Abschiebung von Kurden protestierte, für ehemalige NS-Zwangsarbeiter, für Menschenrechte, für verfolgte Autoren, gegen Kriege, für Kriege - und der dann, 2006, einräumen musste, dass er selbst im Krieg fehlbar geworden war. Die in seiner Autobiographie erwähnte Mitgliedschaft des 17-Jährigen in der Waffen-SS führte zu einer erregten öffentlichen Debatte im In- und Ausland. Auf den Ruf der moralischen Integrität legte sich der Schatten der verschwiegenen Mittäterschaft. Grass grollte. Plötzlich galt er, der sich immer für einen schonungslosen Umgang Deutschlands mit seiner NS-Vergangenheit ausgesprochen hatte, als Heuchler.

Ein Gedicht als Provokation

Der inzwischen betagte Schriftsteller und die Öffentlichkeit hatten sich ein wenig entfremdet, eine moralische Instanz, die den Deutschen einen Spiegel vorhält, wurde offenkundig nicht mehr gebraucht - da veröffentlichte Grass im April 2012 einen Text unter dem Titel "Was gesagt werden muss" und erregte noch einmal einen Skandal, der weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ging. Der als "Gedicht" bezeichnete Text war eine unverhüllte Kritik an der Politik Israels. Grass warnte vor einem israelischen Atomschlag gegen den Iran und bezeichnete das Land, seine atomaren Kapazitäten und die Besatzungspolitik  als Gefahr für den Weltfrieden.

Der deutsche Schriftsteller Günter Grass (r) bei einem Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Levi Eschkol in den 1960-er Jahren (Foto: dpa)
Kein Zwist, damals: Günter Grass in den 1960er Jahren mit Israels Ministerpräsident Levi EschkolBild: picture-alliance/dpa

Das Pamphlet löste Empörung aus, der Autor war nun in Israel persona non grata, Antisemitismus-Vorwürfe kursierten. Dennoch bleibt Günter Grass ein Vorbild - nicht zuletzt für seine jüngeren Schriftstellerkollegen. Uwe Tellkamp bezeichnet ihn als eine der "stärksten erzählerischen Potenzen in der deutschen Literatur", Moritz Rinke nennt ihn salopp den "vielleicht interessantesten, vielseitigsten Dinosaurier". Soeben hat der Autor den Gedichtband "Eintagsfliegen" publiziert. Und Grass wäre nicht Grass, wenn er darin nicht auch politische Themen behandelte. Aber es geht dem 85-Jährigen jetzt um mehr - das Alter, Verlust und Tod.

Gourmet und Raucher

Dass Günter Grass nebenbei auch ein humorvoller, witziger, sensibler Zeitgenosse ist, wissen diejenigen am besten, die ihn persönlich kennen oder schon einmal in ungewöhnlichem Rahmen erlebt haben: Der Jazz beispielsweise liegt ihm noch im hohen Alter im Blut. Vor drei Jahren war er während der Frankfurter Buchmesse mit seinem Freund, dem Musiker Günter Baby Sommer, bei einem umjubelten, musikalisch-literarischen Auftritt auf der Bühne.

Eingeweihte wissen auch, dass Grass für sein Leben gern kocht, eine Vorliebe für guten Rotwein hat - und auch mit 85 nicht auf seine Pfeife verzichten möchte. Gern präsentiert er sich als Patriarch inmitten seiner Enkelschar und der weit verzweigten Familie. Ganz nach dem Motto eines anderen Großen: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein." So Goethe in seinem "Faust".