1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Für Neonazi Aussteiger bricht alles zusammen"

Andrea Grunau19. September 2015

Das Aussteiger-Projekt "Nina NRW" arbeitet mit Menschen, die raus wollen aus dem Rechtsextremismus und zurück in ein Leben ohne rechte Gewalt. Im DW-Interview schildert eine Ausstiegsberaterin, wie das gelingen kann.

https://p.dw.com/p/1GElY
Hinter einer zersplitterten Glasscheibe sieht man die Kontur eines Mannes (Foto: DW/Andrea Grunau)
Bild: DW/A. Grunau

Deutsche Welle: Was muss passieren, damit ein Neonazi an Ausstieg denkt?

Ausstiegsberaterin: Was am besten hilft, ist Repression oder Liebe. Diese Themen bringen jemanden dazu, sein Leben in eine andere Richtung zu lenken. Mancher kommt auch nach und nach zu dem Ergebnis, dass er so nicht weitermachen will, dass er die Widersprüche nicht mehr ertragen kann zwischen dem, was in der Szene gepredigt wird, und dem, was gelebt wird.

Wie schwierig ist ein Ausstieg?

Bei einem Mitläufer ist es vielleicht etwas leichter rauszukommen, aber bei jemandem, der in der Führung war, ist es sehr schwer, denn ein Aussteiger ist ein Verräter und einen Verräter lässt man nicht einfach entkommen.

Der Aussteiger Karl, den Sie beraten haben, hat uns berichtet, dass man ihn töten wollte…

Ja, das kann passieren. Die jungen Frauen oder Männer, die die Szene verlassen, haben ein Wissen über die Szene, über illegale Tätigkeiten, Waffenbesitz oder anderes. Ein Aussteiger birgt immer die Gefahr, dass mit dem Verfassungsschutz oder der Polizei gesprochen wird. Deshalb möchte man diese Leute ausschalten.

Karl wurde mit dem Messer angegriffen und niedergestochen. Ihm wurde eine Waffe an den Kopf gehalten. Manchmal stehen die ehemaligen Kameraden mit einem Baseballschläger vor der Tür und treten sie ein. Manchmal wird das Haustier getötet, manchmal der Rest der Familie bedroht. Das ist aber nicht der Regelfall. In einem begleiteten Ausstieg gibt es Möglichkeiten, die Aussteiger zu schützen.

Karl ging zur Polizei, als er aussteigen wollte, ist das der beste Weg?

Polizei ist ein Weg. Doch es ist nicht ganz einfach, wenn Aussteiger anfangen zu erzählen. Die Polizei ist verpflichtet zur Strafverfolgung. Ein Aussteiger-Programm wie Nina NRW hat keine Strafverfolgungspflicht. Wir können versuchen, denjenigen in eine sichere Region zu bringen. Oft müssen sehr schnell Umzüge organisiert werden und die Betroffenen möglichst anonymisiert werden, weil bei Ämtern durchaus Informanten der rechten Szene sitzen könnten.

Landet jemand nach dem Ausstieg an einem Nullpunkt?

Bei jedem Ausstieg fällt auf einmal alles weg: Der Freundeskreis, die Ideologie, alles, was ich über das Leben gedacht habe. Möglicherweise fällt ein Arbeitsplatz weg, wenn ich wegziehe. Ich muss neue Kontakte knüpfen - da ist oft völliges Misstrauen. Für einen Neonazi-Aussteiger bricht alles zusammen und muss komplett neu aufgebaut werden.

Was tun Sie, wenn Ihnen jemand das erste Mal begegnet?

Ich frage, in welcher Szene er war, welche Aufgaben er hatte, wie er die Bedrohung einschätzt und wo wir ansetzen müssen. Das kann ein Umzug sein, das kann auch sein, ein Hakenkreuz-Tattoo zu entfernen. Zuerst geht es um die Sicherheit: Können wir einen leisen Ausstieg machen? Wie kommst du da weg? Später kann es alles Mögliche sein: Begleitung zum Jobcenter, zu einer Suchtherapie oder Schuldnerberatung - was man so an Päckchen mit sich herumschleppen kann.

Wie gelingt die Ablösung vom rechten Gedankengut - gibt es Demokratieschulungen?

Nein. Jemand wird nicht von heute auf morgen Demokrat. Das läuft immer über persönliche Gespräche. Es ist sehr wichtig, sich von der Ideologie zu lösen, denn sonst läuft man Gefahr, immer wieder in solche Kreise zu geraten.

Man muss bestimmte Themen aufarbeiten, ganz individuell: Ist da jemand, der nicht damit klarkommt, dass in Deutschland Leute mit Migrationshintergrund leben? Ist er ein Holocaust-Leugner, ein Chauvinist? Jeder hat seine Themen, manche haben alle zusammen. Da es sehr unterschiedliche Richtungen gibt, muss man gucken, wo derjenige steht und wie er das intellektuell aufarbeiten kann. Manchmal muss man in sehr kleinen Schritten vorgehen.

Blick auf Beine und Unterkörper eines Mannes, der über einen Gehweg läuft (Foto: DW/Andrea Grunau)
Bild: DW/A. Grunau

Was ist wichtig, damit ein Aussteiger den Ausstieg langfristig durchhält?

Ganz wichtig ist es, andere Perspektiven zu schaffen, zum Beispiel eine Arbeit, damit er eine Aufgabe hat. Es geht viel um Wertschätzung. In der Gruppe gab es Anerkennung, Schulterklopfen für gewisse Taten und diese Anerkennung muss derjenige jetzt auch woanders bekommen können.

Gewalt, auch der Umgang mit Waffen und Sprengstoff, gibt vielen einen Kick - wie kommt ein Aussteiger ohne diese Reize klar?

Er muss eine Alternative finden. Es gibt den Geschwindigkeitsrausch als Ersatzbefriedigung, aber das ist sehr unterschiedlich. Jemand, der aus dem Machtgefühl ganz viel zieht, muss sehen, was er stattdessen machen kann - vielleicht einen Sport, der ihn befriedigt.

Wie oft gibt es Rückfälle?

Außerordentlich selten, worüber ich sehr froh bin. Es gibt natürlich Rückschläge - Leute, die sich noch mal mit ihren Kameraden treffen, feststellen: Da bin ich wer und im wirklichen Leben bin ich nur ein blöder Azubi, der sich in der Werkstatt anschreien lassen muss. Das ist nicht einfach, aber Rückschläge gehören bei jeder Lebensveränderung dazu.

Karl wurde als Kind misshandelt, ausgegrenzt, war im Kinderheim. Kommen Betroffene oft aus belasteten Situationen?

Ich kenne Leute, die aus wirklich "guten" Familien kommen, aber es gibt immer Auslöser, wo die Anerkennungsbilanz nicht stimmte. Wenn das Neonazis hören, werden sie wahrscheinlich wütend, aber ich kenne aus ganz vielen Geschichten belastende Situationen und sage: Das sind teilweise Mobbing-Opfer. Es wurden Erfahrungen gemacht, die kompensiert werden konnten, als man sich einer vermeintlich starken Gruppe angeschlossen hat.

Am Anfang steht also nicht die rechtsextreme Ideologie?

Einstiegsprozesse sind in allen Szenen einigermaßen gleich. Ich höre das immer wieder: "Es ist egal, wer mich aufgefangen hat, es hätte links, rechts oder irgendwas sein können." Selten läuft der Weg über Ideologie. Oft heißt es: "Plötzlich war jemand da, der sich um mich gekümmert hat. Irgendwann haben wir angefangen über diese Sachen zu reden, ich bin mit zu einer Demo gegangen und hab mich ganz langsam politisch angenähert."

Wenn man Leute aus der Neonazi-Szene raushalten will, muss man also die Ideologie und den Menschen auseinanderhalten?

Ja. Ich halte es auch für wichtig, den Kontakt zu halten und sich damit auseinanderzusetzen, im Freundeskreis oder als Eltern, wenn ich merke, mein Kind geht in diese Richtung, die mir gar nicht gefällt. Man sollte immer wieder sagen: Als Mensch bist du mir weiter wichtig, nur das, was du sagst und tust, kann ich überhaupt nicht akzeptieren.

Wie lange können Sie die Begleitung leisten?

So lange es das Projekt gibt. Wenn jemand fünf Jahre braucht, braucht er fünf Jahre.

Aussteigerprojekte haben oft Finanzierungsnöte - wie ist das bei Ihnen?

Wir müssen jedes Jahr einen Antrag stellen, dass wir weiter arbeiten können. Man kann verzweifeln, weil man sich ja ein Netzwerk aufbaut und vor allem mit Teilnehmenden arbeitet, die Sicherheit brauchen. Die möchte man nicht fallenlassen, weil das Projekt endet.

Die Ausstiegsberaterin arbeitet als Diplompädagogin im Projekt "Nina NRW" in Nordrhein-Westfalen. Ihr Foto und ihren Namen möchte sie aus Sicherheitsgründen nicht publizieren.

Das Interview führte Andrea Grunau.