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Politik

Immer noch keine Klarheit

Anabel Hernández
27. September 2019

Das Schicksal der entführten 43 Studenten kann die mexikanische Regierung nur aufklären, wenn sie mit den Menschen vor Ort spricht. Und sie diejenigen schützt, die Informationen teilen, meint Anabel Hernández.

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BdTD Mexiko
Bild: Reuters/E. Garrido

Ich kam Ende Oktober 2014 mit meinem Kollegen Steve Fisher in Iguala an. Damals war ich gezwungen in Berkeley, Kalifornien, zu leben, nachdem ich wegen meiner Enthüllungen über Verbindungen von Beamten auf höchsten Ebenen der mexikanischen Regierung mit dem Sinaloa-Kartel bedroht worden war. Ich wollte meinen beiden Kindern und mir selbst eine neue Zukunft in den USA aufbauen und hatte die Absicht, für lange Zeit nicht nach Mexiko zurückzukehren.

Doch die schicksalhafte Nacht des 26. September hatte alles geändert: Hundert Studenten einer Hochschule in Ayotzinapa wurden in Iguana von bewaffneten Kräften angegriffen. Danach waren 43 von ihnen verschwunden. Sie hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst.

Der Bürgermeister als Auftragsgeber?

Die offizielle Version des Präsidenten Enrique Peña Nieto, des Generalstaatsanwalts, des Verteidigungs- und des Innenministers war, dass die Studenten mit mehreren Bussen nach Iguala gekommen waren, um eine politische Kundgebung der Frau des Bürgermeisters zu stören. Der Bürgermeister habe daraufhin der Polizei befohlen, gegen die Studenten vorzugehen und sie mit Unterstützung einer lokalen Gruppe von Kriminellen verschwinden zu lassen. Angeblich seien die 43 Studenten in derselben Nacht ermordet und auf einer Müllhalde verbrannt worden.

Als wir in Iguala ankamen, war die Atmosphäre angespannt und düster. Ich hatte bereits von einem Informanten geheime Dokumente über den Fall erhalten. Ich zeichnete die Route nach, die die Busse bei ihrer Ankunft in Iguala bis hinein in die Stadt gefahren waren - die Straßen, durch die zuerst zwei Busse fuhren und dann die anderen drei, die in dieser Nacht angegriffen worden waren. Ich identifizierte die Namen aller Studenten, die den Angriff überlebt hatten, und nahm Kontakt zu ihnen auf, um sie zu interviewen.

Ich habe mit mehreren von ihnen gesprochen; wir gingen zusammen durch die Straßen, wo die Angriffe geschehen waren. Und wir sprachen mit Anwohnern. Ich konnte die Angst in ihren Augen sehen, als wir fragten: Waren Sie zuhause, als es geschah? Was haben Sie gesehen oder gehört? Was ihre Augen verrieten, widersprach ihren Antworten. Alle behaupteten, an diesem Abend nicht in Iguala gewesen zu sein. Sogar die Händler, deren Geschäfte zur fraglichen Zeit geöffnet waren, die Nachbarn, die Pendler, die zu dieser Zeit täglich diesen Weg gehen, leugneten, irgendetwas gesehen oder gehört zu haben. Die Gespräche waren schnell beendet.

DW Kolumne Anabel Hernández
DW-Kolumnistin Anabel Hernández

Dies war die erste von vielen Reisen, die ich zur Recherche über das Verschwinden der 43 Studenten unternahm. Erst nach und nach, nachdem ich mehrmals an dieselben Türen geklopft hatte, begannen einige der Menschen in Iguala von der Nacht des Schreckens zu erzählen. Sie weinten, sie zitterten, sie fühlten sich schuldig, weil sie untätig geblieben waren. Ein Lehrer stand unter Schock, weil er am Tag nach dem Angriff Blutspritzer von der Außenwand seines Hauses entfernen musste.

Soldaten unter den Tätern?

Nunmehr verstand ich, dass die überlebenden Studenten gar nicht in der Lage gewesen waren, alle Facetten des Geschehens zu verfolgen, da sie sich versteckt hatten, um sich vor den Schüssen zu schützen, während ihre Mitstudenten entführt wurden. Durch die Aussagen der Anwohner wusste ich nun, dass die Studenten nicht nur von Uniformierten der Bundes- und örtlichen Polizei angegriffen worden waren, sondern auch von Menschen in Zivil. Spontan sagten einige Zeugen, dass sie wie Soldaten gewirkt hätten.

Ich konnte mir drei der fünf Busse ansehen, in denen die Studenten unterwegs waren, als sie angegriffen wurden. Sie standen auf einem Abstellplatz, verdreckt, dem Regen ausgesetzt, ohne Siegel an den Türen oder Fenstern. Obwohl die Busse den Tatort darstellten, standen sie völlig ungeschützt herum.

In meinen Besitz kamen die Vernehmungsakten der Polizisten von Iguala und Cocula. Angeblich hatten sie alles gestanden und behauptet, sie allein seien schuldig. Aber ihre Aussagen waren widersprüchlich. Jeder erzählte eine andere Version, obwohl sie das Verbrechen zusammen an der gleichen Stelle und zur gleichen Zeit begangen haben wollten.

Dann las ich die medizinischen Berichte, die kurz nach ihrem "Geständnis" erstellt worden waren. In jedem wurden Wunden von Schlägen und Verbrennungen beschrieben. Ich konsultierte einen Facharzt, der mir bestätigte, dass es sich um klassische Verletzungen durch Folter und um Verbrennungen durch Stromschläge handelte. Nur einer der Polizisten, Alejandro Lara, hat es danach gewagt zu bezeugen, dass er während seines "Geständnisses" gefoltert worden war, und dass er eine Beschwerde einreichen werde.

Selbst die Ehefrauen der angeblichen Täter wurden gefoltert

Ich sprach mit den Ehefrauen der Polizisten, die von der Regierung und der öffentlichen Meinung als die allein Schuldigen an den Pranger gestellt wurden. Die überwiegende Mehrheit von ihnen war von der Bundespolizei und Armeeangehörigen verhaftet worden. Auch sie wurden mit Stromstößen an den Genitalien, dem Mund und den Ohren gefoltert. Viele wurden sexuell missbraucht um  Geständnisse zu erpressen. Es wurden auch Augenzeugen des Geschehens gefoltert, die man beschuldigte, Mitglieder der kriminellen Vereinigung "Guerreros Unidos" zu sein. Die Regierung hat insgesamt mehr als 100 Personen verhaftet, von denen mehr als 80 Prozent gefoltert wurden.

Die verschwundenen Studenten bleiben weiterhin unauffindbar. Monate später bestätigten internationale Experten, dass es gar keine Einäscherung auf der Mülldeponie gegeben hatte. Die Regierung präparierte daraufhin einen Müllsack mit einem verbrannten Knochen von einem der Studenten und behauptete, dieser wäre in einem Fluss gefunden worden. Der anhand des Knochens identifizierte Student war Alexander Mora. Über den Rest seines Körpers und den Verbleib der anderen 42 Studenten war immer noch nichts bekannt.

Im Gegensatz zu den Beteuerungen der Regierung von Peña Nieto konnte ich dokumentieren, dass Einheiten des 27. Infanteriebataillons die Studenten beobachteten, seit sie Ayotzinapa vier Stunden vor dem Angriff in Iguala verlassen hatten. Die Soldaten folgten ihnen und beteiligten sich in Zivilkleidung an dem Überfall auf die Busse. Zu den uniformierten Angreifern zählten Beamte der Bundespolizei, der lokalen Polizei und der lokalen Staatsanwaltschaft. Sie alle gegen 100 Lehramtsstudenten im Alter von 16 bis 22 Jahren.

Zufällig einen Bus mit heißer Fracht gekapert

Der Angriff konzentrierte sich vor allem auf zwei der fünf Busse, in denen die Studenten unterwegs waren. Aus diesen beiden Bussen verschwanden auch die 43 Studenten. Von einer Informationsquelle aus dem Umfeld des Beltrán-Leyva-Kartells erfuhr ich, dass die besagten beiden Busse eine Heroinladung im Wert von über zwei Millionen Dollar transportierten. Die Studenten hatten rein zufällig genau diese Busse auf der Straße gestoppt und "besetzt", ohne zu ahnen, welche besondere Fracht sie transportierten. Sie wollten die Busse nur "ausleihen", um mit ihnen nach Mexiko-Stadt zu fahren und dort an einer Protestdemonstration am 2. Oktober teilzunehmen, dem Jahrestag des Massakers von 1968, bei dem das Militär brutal gegen protestierende Studenten vorging.

Der Besitzer des in den Bussen versteckten Heroins war ein Drogenbaron, der einigen Angehörigen des 27. Infanteriebataillons befohlen hatte, die Ware um jeden Preis zu sichern. Das Militär hatte zwei Jahre zuvor die volle Kontrolle über die Stadt und seine Polizeikräfte übernommen.

Schon kurz nach dem Verschwinden der 43 Studenten gab es Hinweise und Aussagen, dass es Mitglieder des 27. Infanteriebataillons waren, die den Angriff und die Entführung koordinierten. In den Tagen direkt nach der Entführung gab es anonyme Anrufe von Bürgern auf den Notfallnummern, die besagten, dass einige Studenten zur Basis des 27. Bataillons und anderen Orten der Gegend verschleppt worden seien.

Alle diese Informationen habe ich schon in der Zeitschrift Proceso sowie in meinem Buch " La veradera noche de Iguala" (Die Wahrheit über die Nacht von Iguala, 2016) publik gemacht. Die Anwälte der Eltern der verschwundenen Studenten, sowie Mitglieder der interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und der Vereinten Nationen baten mich, die Ergebnisse meiner Recherchen mit ihnen zu teilen. Sie kamen bei ihren Untersuchungen zu ähnlichen Schlussfolgerungen.

Endlich: Die Regierung Obrador kümmert sich!

Inzwischen sind fünf Jahre vergangen! Fünf Jahre, in denen die Väter und Mütter der 43 Jugendlichen ihre Kinder nicht umarmen oder an ihren Gräbern weinen konnten. Ich weiß, dass die neue Regierung unter dem linken Präsidenten Andrés Manuel López Obrador mit einem Team von forensischen Experten und Anthropologen mindestens 200 Orte absucht, um die 43 Vermissten zu finden.

Die Gerichte in Mexiko haben die Ergebnisse meiner Nachforschungen bestätigt und seit vergangenen Jahr damit begonnen, Menschen freizulassen, die zu Unrecht im Gefängnis saßen. Vor einigen Tagen wurde eine Gruppe von 21 Polizisten, die des Verbrechens beschuldigt wurden, freigelassen, unter ihnen auch der Polizist Alejandro Lara. Die aktuelle Regierung protestierte und beschuldigte die Richter der Korruption. Aber es gibt in der Welt wohl keinen ehrlichen Richter, der einen der Beschuldigten hätte verurteilen können, nachdem er die medizinischen Berichte über die Folterspuren, die auch bestätigt sind, gesehen hat.

Die Inhaftierung unschuldiger Menschen hilft den wirklichen Tätern und garantiert ihnen Straffreiheit. Wenn die Regierung von López Obrador die Wahrheit wissen will, wenn der Generalstaatsanwalt seine Arbeit machen will, und wenn die Wahrheitskommission den Fall lösen will, dann muss sie, wie ich es vor fünf Jahren tat, nach Iguana gehen um dort zu sehen, was für alle offensichtlich ist. Es ist unerlässlich, dass die Regierung einen Dialog mit der Gesellschaft aufnimmt und die Informationsgeber schützt.

Ich suche weiterhin nach den Studenten - mit der gleichen Entschlossenheit, mit der ich nach meinem Vater gesucht habe, der im Dezember 2000 spurlos verschwand. 

Der mutmaßliche Drahtzieher ist bekannt und greifbar

Der mutmaßliche Besitzer der Drogen, der das Verschwinden der Studenten veranlasste, ist der Drogenboss Martín Villegas Navarrete, alias "Elegante", ein Mitglied des Beltrán-Leyva-Kartells. Er kontrollierte eine Route des Heroinhandels in die USA mittels Omnibussen unter der mutmaßlichen Mitwisserschaft der Fahrer. Ob es eine Komplizenschaft der Busunternehmer gab, ist mir nicht bekannt.

Im Jahr 2015 erzählte Martín Villegas Navarrete in einem abgehörten Telefongespräch von seiner Rolle in diesem Fall. Eine Woche nach dem Telefonat, wurde er von der Bundespolizei verhaftet. Aber anstatt in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt zu werden, wie es einem Drogenboss seines Kalibers entsprochen hätte, kam er in ein Gefängnis der mittleren Sicherheitsstufe in Mexiko-Stadt, wo er ziemlich luxuriös residierte. Villegas Navarrete hat die Geschehnisse in Iguala vom 26. September nie wieder thematisiert. Am 24. September 2016 besuchte ich ihn in seiner mit Mahagoni getäfelten Gefängniszelle, ausgestattet mit eigenem Bad, Kochnische, Fernseher und anderen Annehmlichkeiten. Nach dem zu urteilen, was er mir erzählte, war er zweifellos derjenige, der zu dieser Zeit die Kontrolle über das Gebiet um Iguala hatte. Als ich darauf bestand, mehr über die 43 Studenten zu erfahren, starrte er mich an und sagte, dass er manchmal sehr nett sein könne, aber auch in der Lage sei Menschen zu töten.

Noch vor dem Ende der Präsidentschaft von Enrique Peña Nieto wurde Villegas Navarrete auf Antrag eines Gerichts in Georgia, USA, wegen Drogenhandel und Geldwäsche an die Vereinigten Staaten ausgeliefert. Die mexikanische Regierung hat ihn nie wegen eines Verbrechens angeklagt. Er schloss eine Vereinbarung mit der US-amerikanischen Staatsanwaltschaft und bekannte sich schuldig. Im Juni 2019 zahlte er eine Geldstrafe von 800.000 Dollar und wurde zu 165 Monaten Gefängnis verurteilt, etwas mehr als 14 Jahre.

Im Rahmen einer erneuten Untersuchung durch die neue mexikanische Regierung könnte man Martín Villegas Navarrete befragen. Er sollte auch nach möglichen Komplizen und Mitarbeitern befragt werden, die zum fraglichen Zeitpunkt in Guerrero aktiv waren. Es müssen die Videos der Anwohner gesichert werden, die jene zumindest bis 2016 in ihrem Besitz hatten, vor allem die Videoaufnahmen von den Anwohnern im Zentrum von Iguala.

Ich veröffentliche heute ein Foto, das mich seit Jahren beschäftigt. Ich habe versucht es mit Hilfe einer Universität zu verifizieren. Aber mir wurde gesagt, dass es keine 100-prozentig sichere Aussage möglich sei. Ich überlasse es hier den Lesern, in der Hoffnung, dass jemand vielleicht über das nötige Werkzeug verfügt, und die Ergebnisse teilt, wenn sie von Interesse sind.

Bild zur Ayotzinapa Kolumne von Anabel Hernandez
Bild: Privat

Dieses Foto wurde während des Angriffs auf die Busse von einer Person aus einem der Häuser an der Straße aufgenommen. Man sieht den Bus mit der Aufschrift "Estrella de oro", aus dem etwa 20 Studenten verschwunden sind. Man erkennt die Beine eines uniformierten Menschen. Und man sieht an der linken Seite des Busses einen Lastwagen mit weißen Aufbau. Wenn man das Foto mit Farben und Kontrasten weiterbearbeitet, kann man im Inneren des Trucks menschliche Silhouetten erkennen und Köpfe und Hände, die herausragen.

Als ich zu den Anwohnern des Hauses ging, vor denen der weiße Truck gehalten hatte, sagte man mir, dass sie kurz nach dem Angriff umgezogen seien. Als ich mit einem anderen Anwohner sprechen wollte, sagte er mit kategorisch, dass er nicht darüber sprechen würde.

Wie dem auch sei: Es ist ein Foto, das in dem Moment aufgenommen wurde, als die Studenten entführt wurden. Es ist wahrscheinlich ihr letztes Lebenszeichen.

Die Journalistin und Buchautorin Anabel Hernández berichtet seit vielen Jahren über Drogenkartelle und Korruption in Mexiko. Nach massiven Morddrohungen musste sie Mexiko verlassen und lebt seitdem in Europa. Für ihren Einsatz erhielt sie beim Global Media Forum der Deutschen Welle in Bonn den DW Freedom of Speech Award 2019.